Pola Kinski: Kindermund

Pola Kinski: Kindermund ©Kinski/Bartscherer
Pola Kinski: Kindermund ©Kinski/Bartscherer

Ein schwerer Brocken lag unterm Weihnachtsbaum – aber ich hatte mir das Buch gewünscht. Obwohl es schon fast ein Jahr veröffentlicht ist und ich es unbedingt lesen wollte, hatte ich mich bisher unwohl und vorsichtig drumherum gedrückt. Zu schwere Kost, um es abends vor dem Schlafengehen oder zwischendurch in der Bahn zu lesen. An den Feiertagen ist Zeit.

Vorweg: ich glaube Pola Kinski jedes Wort, das im Buch steht. Jedes. Einzelne. Wort. Eine solche Geschichte kann sich niemand einfach so ausdenken. Lächerliche Vorwürfe, sie habe es nur geschrieben, um auf sich aufmerksam zu machen. Warum sollte sie? Warum sollte sie sich freiwillig den zwangsläufig folgenden öffentlichen Zweifeln aussetzen, 20 Jahre nach dem Tod ihres Vaters?

Ein schwieriges Buch, wuchtig und intensiv geschrieben, es hinterlässt den Leser ratlos und wütend zugleich. Es geht gar nicht so sehr um Kinski, oder um seine Tochter, um prominent oder nicht, es geht in diesem Buch vor allem um Konstellationen, in denen Missbrauch entstehen kann und oft genug entsteht. Weil weggesehen wird, weil die Umwelt gleichgültig ist. Weil es „doch nicht so schlimm“ ist. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als mindestens ein zerstörtes Leben.

Ich habe das Buch in einem Zug ausgelesen, es ist von solcher Intensität, dass es einen hineinzieht und man immer weiter liest, auch wenn es schwer erträglich ist. Pola Kinski ist nur wenige Jahre älter als ich, und das Nachkriegsdeutschland, das sie beschreibt, kenne ich auch noch. Dieses Verklemmte, dieses Schweigen, im Kino die heile Welt. Nicht für Kinder wie Pola, die zwischen beiden Elternteilen hin und hergerissen ist. Ignoriert von der Mutter, verwöhnt wie eine Prinzessin vom Vater, auf der Suche nach Liebe und restlos abhängig von jeder Zuwendung, die sie überhaupt bekommt. Im Schweigen gefangen durch Erpressung: „Wenn du jemandem etwas sagst, muss ich ins Gefängnis.“

Wer nach der Lektüre dieses Buchs immer noch fragen kann, warum sie damals nichts gesagt hat oder warum sie erst so spät ihr Schweigen bricht – der hat nichts verstanden. Schade nur, dass es erst so spät veröffentlicht wurde, aus zwei Gründen: Kinski hätte hinter Gitter oder zumindest in die geschlossene Anstalt gehört, und vielleicht wäre das Thema Kindesmissbrauch schon viel früher intensiv diskutiert worden.

Pola Kinski hat meine Bewunderung. Sie ist eine mutige Frau, die nicht nur ihr eigenes, ganz privates Erleben und dessen Schrecken öffentlich macht, sondern sie hat ihr Leben beherzt angepackt und es irgendwie gemeistert. Ich hoffe sehr, sie hat auch Glück ohne Schatten erleben dürfen.