In zwei Wochen 3.ooo Kilometer gefahren, ein paarmal ziemlich durchweicht gewesen, von Mücken zerstochen, Sonnenbrand, versehentlich durch Weinberge gebrettert, tolle Musik gehört, drei Kilo abgenommen – aber ich bin einfach nur happy und hatte super viel Spaß!
Es gibt Dinge, die muss man einfach mal machen. Zum Beispiel, seiner Lieblingsband („Älteste Boy-Band der Welt“!) ein paar Tage hinterher zu reisen. Coronabedingt waren seit Frühjahr 2020 alle Konzerte der Frontm3n ausgefallen (Infos zu Frontm3n siehe hier und hier), verschoben, gecancelt, bis auf ein verregnetes im August 2020, bei dem dann 80 Zuschauer waren…
Einige der verschobenen Konzerte nachzuholen und mit einigen neuen Terminen in diesem Sommer zu kombinieren, war die Herausforderung. Challenge accepted – sechs Konzerte in zehn Tagen, davon fünf an aufeinanderfolgenden Tagen, jeweils an anderen Orten und jedes in einem anderen Bundesland. Und nur zwei im Saal, die anderen vier draußen. Klingt anstrengend? War es auch – aber so geil!!
Die Daten:
28. Juli 2021, Regensburg, Thon-Dittmer-Palais, Open Air
5. August 2021, Aschaffenburg, Colos-Saal, drinnen
6. August 2021, Dexheim, Kulturhof, Open Air
7. August 2021, Saarlouis, Vauban-Insel, Open Air
8. August 2021, Krefeld, Kulturfabrik, drinnen
9. August 2021, Hamburg, Alsterschlösschen, Open Air
Das erste Konzert in Regensburg: die Band nervös und angespannt, schließlich waren sie im Grunde seit anderthalb Jahren nicht mehr aufgetreten. Alles ging gut. Naja, fast alles. Die Anspannung machte sich bemerkbar, aber nur für Fans, die jeden Song gründlich kennen und sich hier und da über völlig neue Akkorde wunderten. Die anderen haben vermutlich nicht mal was gemerkt. Und hey – nach so langer Pause, noch dazu live? Da hakt es immer mal irgendwo. Das Publikum jedenfalls ging begeistert mit, es wurde gesungen, geklatscht, getanzt – herrlich, das mal wieder live zu erleben!
In Aschaffenburg gab es ein Hybrid-Konzert im Colos-Saal- live vor Publikum und gleichzeitig online übertragen. Unsere Gruppe saß etwas weiter hinten (wobei bei der „Größe“ des Colos-Saales „hinten“ nicht wirklich „hinten“ ist). Vor allem ist die Akustik dort natürlich viel besser als direkt vor der Bühne. Und nachdem die Band sich seit Regensburg wieder richtig eingenordet hatte, vor allem akustisch Genuss pur!
Dexheim – wer weiß denn, wo das ist? Neben Oppenheim, etwa in der Mitte zwischen Mainz und Worms. In Oppenheim war auch das Hotel, in einem ehemaligen Amtsgericht – ein Haus mit viel Flair, behutsam modernisiert und original belassen, wo es irgend ging. Beste Empfehlung für jeden, der mal in die Gegend kommt!
Das Konzert fand statt auf einem Kulturhof in Dexheim, einem Weingut, den Innenhof liebevoll hergerichtet und vorzüglich ausgestattet für Aufführungen und Konzerte aller Art. Das Navi lotste mich von Oppenheim nach Dexheim hartnäckig über Wirtschaftswege mitten durch die Weinberge, aber gefunden habe ich den Kulturhof dann doch noch. Parken auf der Wiese, hintenrum. Die wiederum durchweicht war, nach dem Konzert musste man ohne Beleuchtung sein Auto wiederfinden und landete natürlich in irgendwelchen Pfützen. Von lehmverschmierten Radkästen ganz zu schweigen.
Von Dexheim am nächsten Tag nach Saarlouis, auch da war ich noch nie. Die ganze Stadt scheint aus irgendwelchen Bastionen, dicken Stadtmauern, Kanonen und ähnlichen Militaria zu bestehen. Ich besichtigte eine Kirche mit neugotischer Fassade und Beton-Innenraum – absolut atemberaubend! Und beschloss, mir die Stadtgeschichte doch mal näher anzusehen. Irgendwas mit deutsch-französischen Kriegen oder so… Jedenfalls scheint es dort hoch hergegangen zu sein.
Konzert auf der Vauban-Insel, mitten in der Saar (es war doch die Saar, oder?), ordentlich Mücken, am Nachmittag hatte es noch aus Kübeln gegossen (gerade, als ich auf Stadtrundgang war), aber am Abend glücklicherweise trocken. Also, zumindest von oben. Die Mücken finden immer noch Brutstätten und nutzen sie weidlich und beißen dann um sich.
Und am nächsten Morgen kam er dann tatsächlich, der Aussetzer: ich wachte auf und wusste geschlagene fünf Minuten lang nicht, in welcher Stadt ich bin. Und das um viertel vor sieben am Sonntagmorgen. Und als es mir dann endlich einfiel (anknüpfend an die Überlegung „was hast du gestern Abend gemacht?“) war ich natürlich vor lauter Nachdenken putzmunter. Das machte aber gar nichts, nach einem kurzen Frühstück startete ich um viertel nach acht Richtung Heimat und hatte die Autobahn für mich alleine. Während der Fahrt überlegte ich aber schon, wie es wohl einer Band geht, die wochenlang am Stück unterwegs ist…
Nächster Halt: Krefeld, Kulturfabrik. Zugegeben, in diesem Fall nicht wirklich ein Konzert, sondern ein kurzes Akustik-Set mit den Musikern, und anschließend Vorstellung des neuen Albums „Enjoy the ride“, das am 8. Oktober 2021 erscheinen wird (hier vorbestellen). Jeder Gast bekam eine Demo-CD mit nach Hause! Hab ich auch noch nie erlebt, dass man sich ein Album zusammen mit den Musikern anhört, sie erklärten jeden Song, wer ihn geschrieben hat, welche Geschichte dahintersteckt – und ich hatte das leicht ungute Gefühl, dass sie unsere Reaktionen beobachteten, während der jeweilige Song gespielt wurde. Ich kann mich aber täuschen… 😉
Diesmal eine Übernachtung zu Hause, und am nächsten Morgen Start in die entgegengesetzte Richtung: Hamburg. Dort Konzert auf einem Privatgelände, unterhalb des sogenannten „Alsterschlößchens“, an der Alster, ein ganz entzückendes Ambiente. Zumindest, wenn es trocken ist. Blieb es aber nicht. Pünktlich zu Konzertbeginn öffnete der Himmel seine Schleusen, es grummelte, goss und regnete in Strömen, wir packten eilig unsere Regenjacken und Ponchos aus und mussten uns dafür von den Musikern anhören, dass wir alle wie Pilze aussähen. Die hatten gut lachen, die standen trocken! Immerhin ging es im ersten Song „Bus Stop“ auch um „under my umbrella“, das passte dann sehr gut. Wie überhaupt der Regen für die Band Anlass zu spontanen Improvisationen war, die alle irgendwas mit Wasser zu tun hatten. Trotzdem und gerade deswegen war es zwar das bei weitem nasseste, aber auch lustigste Konzert! Die Stimmung war jedenfalls top! Und dann wieder die Frontm3n-Magie: bei „I’m not in love“ Feuerzeug rausgeholt und war wieder voll in den Siebzigern…
Das Hotel war sehr hübsch, das einzige vor Ort (Poppenbüttel) (ja, das heißt wirklich so), und demzufolge war die gesamte erste Etage mit Band, Management und Fans belegt. Eine Hotelbar gab es leider nicht, kein Lokal in der Nähe, in dem man das letzte Konzert der Reihe hätte begießen können, also improvisierten wir mit Roséwein-Flaschen vom Edeka, Zahnputzgläsern, weiteren Hotelgästen, die mit den Frontm3n überhaupt nichts zu tun hatten, eine Party auf der Eingangstreppe. Der Bewegungsmelder an der Eingangstür reagierte sehr empfindlich und sorgte für genügend Frischluft. Also auch alles corona-konform.
Tja, und nun wieder zu Hause. Der Konzertsommer ist zum Glück noch nicht vorbei, Menden und Bonn (jeweils Open Air) sollen noch folgen, hoffen wir mal, dass alles so stattfinden kann…
3,000 kilometers in two weeks, got quite soggy a couple of times, bitten by mosquitoes, sunburned, accidentally conquered vineyards, listened to great music, lost three kilos – but I’m just happy and had a lot of fun!
There are things you just have to do at least once in life. For example, to travel (sort of) with your favourite band („Oldest boy band in the world“!). Due to corona, all concerts of the Frontm3n had been cancelled or postponed since spring 2020 (for information on Frontm3n see here and here ), except for a rainy one in August 2020, with 80 spectators …
The challenge was to catch up on some of the postponed concerts and combine them with some new dates this summer. Challenge accepted – six concerts in ten days, five of them on consecutive days, each in different locations and each in a different federal state. And only two in the hall, the other four outside. Sounds exhausting? It was – but so cool!
The data:
July 28, 2021, Regensburg, Thon-Dittmer-Palais, Open Air
August 5, 2021, Aschaffenburg, Colos-Saal, inside
August 6, 2021, Dexheim, Kulturhof, Open Air
August 7, 2021, Saarlouis, Vauban Island, Open Air
August 8, 2021, Krefeld, Kulturfabrik, inside
August 9, 2021, Hamburg, Alsterschlösschen, Open Air
The first concert in Regensburg : the band was nervous and tense, after all, they hadn’t played for a year and a half. But everything went well. Almost everything. The tension was noticeable, but only for fans who know each song thoroughly and who wondered about completely new chords here and there. The others probably didn’t even notice anything. But hey – after such a long break, and live? No problem. In any case, the audience went along enthusiastically, there was singing, clapping, dancing – wonderful to experience it live again!
In Aschaffenburg there was a hybrid concert in the Colos Hall – live in front of an audience and broadcast online at the same time. Our group sat a little further back (although with the „size“ of the Colos hall, „back“ is not really „back“). Above all, the acoustics in the back are of course much better than in front of the stage. And because the band had really come back to life since Regensburg, it was acoustically pure enjoyment!
Dexheim – who knows where that is? Next to Oppenheim, roughly in the middle between Mainz and Worms. The hotel was also in Oppenheim, in a former District Court – a house with a lot of flair, carefully modernized and original wherever possible. Best recommendation for anyone who comes to the area!
The concert took place on a Kulturhof in Dexheim, a winery, the inner courtyard was lovingly prepared and excellently equipped for performances and concerts of all kinds. The navigation system steered me stubbornly from Oppenheim to Dexheim along farm roads through the vineyards, but finally I found the Kulturhof. Parking on the meadow, which was soggy, after the concert you had to find your car without lighting and of course everyone ended up in puddles. Not to mention the mud-smeared wheels.
From Dexheim to Saarlouis the next day, I’ve never been there either. The whole city seems to consist of some bastions, thick city walls, cannons and similar militaria. I visited a church with a neo-Gothic facade and concrete interior – absolutely breathtaking! And I decided to take a closer look at the city’s history later. Something about French-German wars or something … In any case, it seems to have been a lot going on there.
Concert on the Vauban Island, in the middle of the Saar (it was the Saar, wasn’t it?), a lot of mosquitos, in the afternoon it was still pouring from buckets (just when I was on a tour in the city), but luckily it was dry in the evening. Well, at least from above. The mosquitoes still find breeding grounds and then bite.
And the next morning it actually came, the dropout: I woke up and didn’t know for a full five minutes which city I was in. And that at a quarter to seven on Sunday morning. And when it finally occurred to me (following on from the thought „what did you do last night?“) I was of course widely awake. But that didn’t matter, after a short breakfast I started heading home at a quarter past eight and had the motorway to myself. During the trip, however, I was already wondering how a band is coping, beingh on the road for weeks …
Next stop: Krefeld , Kulturfabrik. Admittedly, in this case not really a concert, but a short acoustic set with the musicians, and then the presentation of the new album „Enjoy the ride“ (pre-order here), which will be released on October 8, 2021. I’ve also never seen an album being listened together with the musicians, they explained each song, who wrote it, what story is behind it – and I had that slightly uncomfortable feeling that they were watching our reactions while the respective song was being played. But I can be wrong … 😉
This time an overnight stay at home, and the next morning start in the opposite direction: Hamburg . A concert on a private property, below the so-called „Alsterschlößchen“, at the river Alster, a very delightful ambience. At least when it’s dry. But just in time for the beginning of the concert, the sky opened its floodgates, it was grumbling, pouring and pouring rain, we hurriedly unpacked our raincoats and ponchos and had to hear from the musicians that we all looked like mushrooms. They had a good laugh, they stood dry! After all, the first song „Bus Stop“ was also about „under my umbrella“, which worked out very well. Also the rain was an occasion for spontaneous improvisations for the band, all of which had something to do with water. Nevertheless, and precisely because of that, it was by far the wettest, but also the funniest concert! In any case, the atmosphere was great! And then again the Frontm3n magic: at „I’m not in love“ I took out a lighter and was back in the seventies …
The hotel was very nice, the only one on site (Poppenbüttel), and as a result the entire first floor was occupied by the band, management and fans. Unfortunately, there was no hotel bar, no restaurant nearby where you could have celebrate the last concert in the series, so we improvised with Edeka rosé wine bottles, glasses from the hotelrooms, and with other hotel guests who had nothing to do with the Frontm3n, a party on the front steps. The motion detector on the entrance door was very sensitive and provided enough fresh air. So everything was corona-compliant.
Well, and now back home. Fortunately, the concert summer is not over yet, Menden and Bonn (both open air) should follow, let’s hope that everything can take place like this …
Es gibt Dinge, die fügen sich scheinbar zufällig zusammen – und alles passt. So mit der Musikgruppe, die ich vor einiger Zeit schon für mich entdeckt, aber jetzt erst so richtig schätzen gelernt habe. Sie passt für mich genau in eine Zeit, wo ich die schrillen Figuren in allen Medien gründlich satt habe, wo ich mich rückbesinne auf eine Zeit, in der man mit wenigen Mitteln viel gemacht hat (und nicht umgekehrt), in der Wissen, Respekt und Können zählte und nicht die möglichst laute und bunte Außendarstellung. Eine eher introvertierte Welt, aber so bin ich eben. Das klingt jetzt ein bisschen nach „früher war alles besser“, ist aber nicht gemeint. Im Fall von Frontm3n steckt auch viel Neues drin, und auch hier fügt sich alles auf einmal zusammen, und das fasziniert mich. Aber der Reihe nach.
Alles fing vor ungefähr anderthalb Jahren an. Ich erwischte rein zufällig ein Video der Gruppe Frontm3n im Internet, dieses hier:
Ich liebe Gitarren, und die Leute, die sie wirklich spielen können. Ich hab selber viel zu lange kein Instrument mehr in der Hand gehabt, und ich war wie elektrisiert, als ich die drei zum ersten Mal hörte. Dass es sich bei „Love is like Oxygen“ um einen alten „Sweet“-Song handelte, wusste ich gar nicht, ich mochte einfach den Sound und dass drei Gitarren klingen können wie eine ganze Band. Unglaublich.
Ich forschte weiter. Wer sind diese Frontm3n? Und wieso habe ich von ihnen vorher noch nie gehört? Die Eckdaten waren schnell herausgefunden:
Peter Howarth ist Frontsänger der „Hollies“, Pete Lincoln war bei „Sailor“ und „Sweet“ und Mick Wilson bei „10CC“ – alles Bands, die jeder, der in den 70er Jahren seine Teenie-Zeit hatte, todsicher kennt. Peter, Pete und Mick sind aber erst später in diese Bands eingestiegen und gehören nicht zur Originalbesetzung. Immerhin spielen sie aber auch schon seit 15 Jahren (Peter und Pete) bzw. 20 Jahren (Mick) in ihren Bands, sind also „altgediente“ Frontsänger. Befreundet sind sie seit etwa 25 Jahren. Damals waren alle drei Backgroundsänger bei Cliff Richard, waren mit ihm auf Tour und haben sich in dieser Zeit angefreundet.
Was machen sie?
Frontm3n spielen alte Songs, von Sweet, den Hollies, von Sailor, von 10CC, auch von Cliff Richard und Roy Orbison, den Peter in London in einem Musical auf der Bühne verkörperte. So haben sie zumindest vor etwa drei, vier Jahren angefangen. Sie wollten endlich mal was zusammen machen, etwas anderes. Alles war zunächst als kleines Projekt geplant, „just for fun“, so sagen sie in Interviews, und starteten mit zwei Konzerten, um auszutesten, wie sie ankommen. Daraus wurde eine Tour, bei der ich im letzten Jahr schon einen Auftritt sehen konnte. Damals war alles noch etwas minimalistisch, sparsame Deko, und, wenn ich mich richtig erinnere, fast ausschließlich die alten Songs. Mittlerweile haben sie eine Fangemeinde auch aus jungen Leuten erobert, die ständig größer wird. Fast alle Konzerte der Tour sind ausverkauft. Und sie haben etliche eigene Songs im Repertoire, die genauso gut klingen und sich nahtlos in den Stil einfügen, so dass man oft gar nicht mehr weiß, ob alt oder neu.
Hier ein Video mit einem eigenen Song und dazu auch ziemlich witzig gemacht:
Was können sie?
Ganz viel. Singen. Und vor allem Gitarre spielen. Auch andere Instrumente, hauptsächlich aber Gitarre. Und was sie auf den Saiten zaubern, ist einfach umwerfend! Stimmlich ist Peter der „Belcanto“, wie ich in einem Artikel sehr passend gelesen habe, und kassiert für seine Solonummer mit „He ain’t heavy, he’s my brother“ regelmäßig standing ovations. Pete hört man die vielen Jahre mit durchgeknallten Bands auf der Bühne am deutlichsten an, aber ich mag diese sanfte, leicht angerauhte Stimme sehr gern. Mick ist das Stimmwunder, der von Falsett bis Bass alles drauf hat und sich solo an eine mörderische Version von „Donna“ (10CC) heranwagt. Dazu sind alle drei leidenschaftliche Musiker – und es geht nur um Musik, „no politics, no drama“ (Mick), haben viel Humor und Spaß auf der Bühne und das überträgt sich fast sofort ins Publikum.
Musikalisch ist es eine Rückkehr in meine Jugend – das dachte ich zumindest anfangs, aber das stimmt so nicht ganz. Denn die alten Songs höre ich schon lange nicht mehr, außer mal zufällig im Radio. Die Frontm3n schaffen es aber, durch die Reduzierung auf die bloßen Gitarrentöne, durch wunderbare Harmonien im Gesang das Wesentliche aus den Songs herauszukitzeln, man hört die altbekannten Melodien wieder wie neu – und zumindest ich bin schwer begeistert und mag sie plötzlich wieder. Sogar den uralten Schinken „Carrie“ von Cliff Richard (der noch vor meiner Zeit war und den ich nie mochte) höre ich inzwischen sehr, sehr gern – in der Frontm3n-Version.
Man darf nicht vergessen, dass die Bands, die die Songs damals gesungen haben, Jungspunde von Anfang 20 waren. Bei den Frontm3n fließen jetzt die ausgeprägten Persönlichkeiten und die jahrzehntelange Bühnenerfahrung mit ein. Außerdem klingen Texte, die von Liebe, Sehnsucht und Zusammenhalt erzählen, gesungen von 60jährigen Männern plötzlich ganz anders, irgendwie sehr berührend.
Was hat sich denn seit dem ersten Hören geändert?
Alles. Aus Interesse ist Begeisterung geworden. Wie die drei Gitarre spielen, nicht nur jeder einzelne, sondern vor allem, wie perfekt sie zusammenspielen, ist unüberbietbar. Bühnenbild und Beleuchtung, daran haben sie ordentlich gearbeitet im letzten Jahr, das ist jetzt ein richtig runder, wunderbarer, perfekt zu den dreien passender Rahmen.
Ich hatte das große Glück, die drei Frontm3n persönlich zu treffen, bei gleich drei Konzerten im Januar und Februar – und sie sind wirklich genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte: total cool und locker drauf, bodenständig, freundlich, offen, gänzlich ohne Berührungsängste oder Allüren. Pete wirkt manchmal ein bisschen „grumpy“, ist ruhig, aber superlieb, wenn man interessierte Fragen stellt. Peter ist der Zurückhaltende, aber wenn er einmal redet, findet er den Schluss nicht , und Mick der fröhliche, offene, immer für einen Spaß zu haben. Auch die Persönlichkeiten ergänzen sich also total gut. Dazu kommt, dass sie den Rahmen ihrer Auftritte bewusst (und wohltuend!) klein halten: nicht die ganz großen Hallen (was mit akustischen Gitarren ohnehin schwierig wäre), sondern überschaubar, den Ton sehr sorgfältig ausgesteuert und nicht einfach nur laut. Und wenn man eine der wenigen Karten für ein Meet&Greet und den Soundcheck ergattert, ist die Gruppe maximal 15 Personen groß, und es gibt Fotos, natürlich, aber man kann auch alles fragen und sie signieren alles. Auch kleine Hunde. Völlig normale Leute also. Was die Hemden auf der Bühne angeht, vielleicht manchmal ein wenig schräg – nun ja, Engländer… Andererseits sind genau die inzwischen schon ein Markenzeichen geworden.
Schön und gut, aber bist du nicht zu alt für „fangirling“???
Nein. Man nie zu alt, sich für Dinge zu begeistern. Oder man sollte es nicht sein, sagen wir mal so. Vielleicht mag ich Frontm3n so gerne, weil ich endlich mal eine Musikgruppe erwischt habe, die ungefähr in meinem Alter ist, da gibts ja nicht so viele . Und sie beweisen täglich auf ihrer Tour, dass man auch mit einem bereits gut gefüllten Leben um die 60 noch mal richtig durchstarten kann. Das gibt enorm Auftrieb. Diese Musik zu hören, tut mir einfach gut und macht Laune.
Jedenfalls habe ich meine alte Gitarre wieder rausgekramt, übe jeden Tag ein bisschen, bin total eingerostet, aber bleibe dran und es wird ganz langsam besser. Aber hey: der Spaß zählt. Und dass man immer wieder was Neues versucht.
Es hat sicher auch mit dem Alter zu tun, wenn man sich Jahresrückblicke am liebsten spart. Die Zeit vergeht viel schneller („Wie? Schon wieder ein Jahr herum?“) und gefühlt erlebt man weniger. Obwohl, wenn ich es recht überlege – das Jahr 2018 war doch ganz schön voll. Vor allem hat sich – sicher auch aufgrund des außergewöhnlichen und langen Sommers – vieles draußen abgespielt.
Das Jahr der Kurz-Trips – schon allein deswegen „kurz“, weil der Mann nicht so lange alleine bleiben kann und soll…
Angefangen im Februar mit einer Reise nach Borkum, wieder mal. Das „Teehaus“ hatte mich zu einer Lesung aus „Spätsommer auf Borkum“ eingeladen, und der Einladung bin ich gerne gefolgt.
Zusätzlich hatte ich mir ein Hotelzimmer mit Meerblick gegönnt – zum ersten Mal. Normalerweise nehme ich ein preiswerteres Zimmer nach hinten raus – ich bin ja sowieso nur zum Schlafen dort. Und ich habe auch zum ersten Mal eine Lesung gehalten und war vorher doch ein bisschen nervös. Wie sich aber herausstellte, hatte ich mich gut, beinahe akribisch vorbereitet, es passte und klappte alles, und es war – so hoffe ich jedenfalls – für alle Beteiligten ein unterhaltsamer Nachmittag.
Ich war zum ersten Mal im Winter auf der Insel, und auch wenn ich nicht, wie sonst gewohnt, ausgiebige Fahrradtouren machen konnte, so waren doch die Spaziergänge am gefrorenen Strand unvergleichlich und wunderschön.
Nachdem ich jahrelang im Nachhinein immer geärgert habe, dass ich nicht dabei war, fand noch etwas in diesem Jahr zum ersten Mal statt: ich war tatsächlich im reifen Alter von 59 zum ersten Mal bei „Rock am Ring“ – und fand es super. So super, dass ich schon ein Ticket fürs nächste Jahr habe. Der Sohn war mit von der Partie, hat mir alles gezeigt, alles erklärt, mich mitgeschleppt zu richtig tollen Auftritten, und welchen, die ich eher *hüstel* nicht so toll fand… Aber insgesamt gefiel mir einfach die ausgelassene, entspannte Stimmung, wir hatten riesiges Glück mit dem Wetter, haben viel gelacht und hatten drei Tage einfach nur Spaß.
Quartier für Rock am Ring war übrigens, auch das zum ersten Mal, ein „Mobilheim“ auf einem Campingplatz – „Jungferweiher“ in Ulmen, ein bisschen außerhalb vom Nürburgring. Ein Häuschen, klein, aber mit allem ausgestattet, was man braucht, den Supermarkt gleich die Straße hoch, und von der Terrasse einen unvergleichlichen Blick auf den See. Dieser Wechsel zwischen dem quirligen Festivalgelände und der Ruhe mitten im Naturschutzgebiet ist vielleicht nicht jedermanns Sache – ich fand es für mich genau richtig.
Seit einigen Jahren rumorte es in mir, an einen Ort aus meiner Kindheit zu reisen, der für mich zutiefst verbunden ist mit Sommer, Wärme, Familie, Natur, Geborgenheit, Ferien: der Ort heißt Hilpertsau, liegt im Murgtal, war in den 60er Jahren noch eigenständig, gehört inzwischen, verwaltungstechnisch gesehen, wie auch der Nachbarort Obertsrot zu Gernsbach. Das wiederum liegt in der Nähe von Rastatt, und das ist im Großraum Baden-Baden anzusiedeln. Nur, um das mal geografisch einzuordnen. Also kurz: Nordschwarzwald.
Eine Tante hatte dorthin geheiratet – einen Witwer mit sechs Kindern, zwei eigene noch dazubekommen – und im Sommer wurden regelmäßig Kinder aus der ganzen Verwandtschaft im Rheinland – wegen der guten Luft – dorthin in Ferien geschickt. Als Kind war ich mehrfach da und verbrachte herrliche Ferientage zwischen Nachbarskindern, Bienenvölkern, in Nussbäumen und Obstwiesen, an Bächen, mit Mistkäfern, Igeln und Eidechsen, kurz allem, was Ferien für ein Kind in den 60er Jahren lebenswert machte.
Was davon ist wohl noch da, fragte ich mich schon seit längerer Zeit – der letzte Besuch bei der inzwischen lange verstorbenen Tante lag, wenn ich mich richtig erinnere, fast fünfzig Jahre zurück. Wer heute in dem Haus wohnt, und ob es überhaupt noch steht – keine Ahnung. Ein Hotel gibt es am Ort wohl nicht, also habe ich für drei Tage ein Hotel in einem Nachbarort, Lautenbach, gebucht. Ich hatte auch Wanderungen in der Gegend geplant, für den Fall, dass ich an einem Nachmittag mit dem Dorf durch bin. Kurz gesagt: ich WAR an einem Nachmittag mit dem Dorf durch.
Vieles hat sich verändert – und doch im Grunde gar nichts. An manchen Stellen ist die Zeit einfach stehengeblieben. Und so waren auch plötzlich Erinnerungen wieder taufrisch, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie noch hatte. Plötzlich sah ich die große Gestalt meiner Tante in ihren geblümten Kleidern wieder vor mir, hatte die Gerüche nach Holz und Wald und Papierfabrik, auch die gibt es noch auf der anderen Seite der Murg, wieder in der Nase, sah mich wieder in den Obstwiesen und am Reichenbach entlangstreifen.
Von den Erinnerungen abgesehen ist die Gegend dort wunderschön, ich bin viel gelaufen und gewandert, und sogar auf den Lautenfelsen geklettert, was anstrengend war, aber mit einem weiten Blick über die wunderschöne Landschaft belohnt wurde.
Und noch ein Ausflug in die Kindheit und gleichzeitig auch ein Ausblick: ich habe die Eifel als Ausflugs- und Urlaubsziel wiederentdeckt. Angefangen hat alles in den 60er Jahren mit einem Urlaub auf dem Bauernhof: der Üdersdorfer Mühle, damals noch ein landwirtschaftlicher Betrieb mit Kühen, Schweinen und Hühnern, heute immer noch Ausflugsziel für Wanderer auf dem Eifelsteig, und auch Zimmer werden immer noch vermietet. Natürlich habe ich der Mühle einen Besuch abgestattet.
Daneben gab es aber auch Wanderungen rund um die Eifeler Maare, auf der Dreiborner Hochfläche, und hoffentlich noch viele weitere Ausflüge werden folgen!
Das bringt mich zu einem Fazit des Jahres, das ich gar nicht bewusst gezogen habe, das sich aber einfach ergeben hat aus dem, was ich gemacht und erlebt habe: wir sollten alle mal einen Gang zurückschalten. Mindestens einen. Es muss nicht immer noch exotischer, noch aufwendiger, noch größer, noch teurer und noch umweltschädlicher werden. Schöne Naturerlebnisse kann man auch vor der Haustür haben, menschliche Größe findet sich oft in der unmittelbaren Nachbarschaft, und eigentlich sollten wir doch alle, die es warm, genug zu essen und ein Dach über dem Kopf haben, dankbar sein, dass wir das Glück haben, so und in Frieden leben zu dürfen. Die meisten Menschen auf diesem Planeten können das nicht…
In diesem Sinne: auf ein schönes und erfolgreiches 2019!
Es hatte sich nichts verändert. Das kleine Kaufhaus in der Bismarckstraße gab es immer noch, den Pavillon an der Promenade, und auch das Nordsee-Hotel, eines der wenigen noch erhaltenen alten Bäderhotels, deren klassizistische Fassaden ihn immer fasziniert hatten.
Franz fasste den Griff seines kleinen Koffers fester, ging langsam die Bubertstraße hinunter und bog nach links zum Neuen Leuchtturm ab. Die Häuser rund um den Platz duckten sich förmlich neben dem hoch aufragenden Bauwerk, die rötlichen Backsteine glänzten feucht im Licht der Straßenlaternen, und drüben sah er in der Strandstraße kleine, geschmückte Tannenbäumchen neben den Ladeneingängen. Genau wie früher, wenn er im Winter abends noch Besorgungen gemacht hatte und nach Hause gegangen war. Der Nieselregen hatte aufgehört, aber die Luft wurde mit jeder Minute kälter. Wenn erst Schneefall einsetzte, wäre es wieder wie früher, ganz genau wie früher.
Franz hatte noch ein wenig Zeit. Für sechs Uhr abends hatte er seine Ankunft in der kleinen, billigen Pension angekündigt, obwohl die Fähre schon viel früher angelegt hatte. Aber so konnte er noch ein wenig herumlaufen und sich umsehen. Später würde er wohl alleine in einem schmucklosen Zimmer sitzen und Fernsehen schauen und sich nicht mehr aufraffen, einen Fuß vor die Tür zu setzen.
Das Straßenpflaster war feucht, er ging vorsichtig, um nicht auszurutschen. Seine Schuhe waren für dieses Wetter nicht geeignet, aber er besaß keine anderen. Er wechselte den kleinen Koffer in die linke Hand und steckte die rechte tief in die Manteltasche, um sie aufzuwärmen.
Der Weg zu seinem Haus, oder besser, dem Haus, das vor vielen Jahren sein Zuhause gewesen war, kam ihm kürzer vor als vor Jahren, auch schien die Insel wie geschrumpft. Seltsam. Er hatte immer geglaubt, es ginge einem so, wenn man Orte seiner Kindheit wiedersieht. Weil man inzwischen gewachsen ist und einem alles viel kleiner erscheint, als es in der Erinnerung abgespeichert ist. Aber offenbar war der Zeitfaktor, nicht die Körpergröße das eigentlich Entscheidende. Die Häuser in den Straßen um den Bahnhof erschienen ihm jedenfalls klein und gemütlich, fast wie Puppenstuben.
Sein Haus lag in der Strandstraße, kurz bevor sie eine Biegung nach links zur Wilhelm-Bakker-Straße machte. Er verlangsamte die Schritte. Er konnte in Ruhe stehenbleiben und sich umsehen, hier in der Fußgängerzone fuhren keine Autos. Der Eingang der Polizeiwache auf der rechten Seite war schwach beleuchtet, sicher musste dort irgendjemand Dienst schieben – aber wer sollte hier, auf Borkum, am Heiligabend schon Unfug anstellen?
Es zog ihn magnetisch an, den Ort und sein früheres Wohnhaus wiederzusehen, und gleichzeitig fürchtete er sich beinahe davor, entdeckt zu werden, jemanden zu treffen, der ihn kannte. Jemanden, der ihn fragte, wie es ihm ergangen sei, und warum er jetzt, am Heiligen Abend, in Sommerschuhen und mit einem Koffer in der Hand auf den rutschigen Steinen spazieren ginge. Und Franz stellte sich vor, wie sich der Gesichtsausdruck des Gegenübers verändern würde, wenn er seine Geschichte erzählte. Wie die Augen einen misstrauischen Ausdruck annehmen, das freundliche Lächeln des Willkommens oder des Wiedererkennens vom Gesicht tropfen und die Lippen Worte der Entschuldigung murmelten, damit derjenige sich eilig verabschieden konnte. So, wie man sich immer eilig und bestenfalls mit einer höflich formulierten Ausrede verabschiedet, wenn man entdeckt, dass ein Mensch außerhalb der gesellschaftlich akzeptierten Regeln gelebt hatte und man nicht damit umgehen kann.
Franz war stehengeblieben. Dort drüben, der zweite Hauseingang auf der linken Seite, von der Straßenecke aus gezählt, das war seiner. Oder vielmehr, es war einmal seiner gewesen. Er sah sich um, außer ihm war niemand auf der Straße unterwegs, und so traute er sich näher. Er lehnte sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Hauswand und sah an der Fassade hoch. In einem der Fenster oben brannte ein kleines Licht. Dort, wo einmal das Zimmer seines Sohnes gewesen war. Ob dort jetzt wieder ein Kind wohnte und schon mit neuen Spielsachen spielte, die es zu Weihnachten bekommen hatte? Nichts bleibt deutlicher im Herzen als die Erinnerung an Weihnachtsabende mit der Familie. Diesen Zauber, diese Vorfreude, die Kerzen, den geschmückten Baum, das vergaß man nie mehr.
Sein Blick glitt nach unten. Auch im Erdgeschoss war Licht, aber nicht im vorderen Raum, es schien vielmehr aus einem der hinteren Zimmer bis nach vorne zu leuchten. Vielleicht brannte aber auch nur eine einzelne Kerze. Er ging vorsichtig auf das Haus zu, stellte seinen Koffer ab, reckte sich und versuchte hineinzuspähen. Es gab keine Vorhänge, die Bewohner schien es nicht zu stören, dass man hineinsehen konnte. Ja, das war die Küche, immer noch. Tatsächlich stand eine Kerze stand auf dem Tisch, der Rest des Raums war nur schemenhaft zu erkennen. Die Möbel schienen anders als früher. Aber natürlich, hier wohnten seit dreißig Jahren andere Menschen. Er zog den Kopf ein wenig zurück und sah nach rechts und links. Die hübschen alten Fensterläden waren auch noch da, aber sie sahen gepflegter aus, wie neu gestrichen. Plötzlich nahm Franz in der Küche eine Bewegung wahr und trat hastig einen Schritt zurück. Als er sich bückte und nach seinem Koffer griff, öffnete sich neben ihm die Haustür und eine Frau trat heraus. Sie schlang ihre Strickjacke fester um sich und musterte ihn böse von oben bis unten. „Was stehen Sie da herum?“, herrschte sie ihn an, „warum gaffen Sie in mein Fenster? Gibt‘s da irgendwas zu sehen?“
Franz zog erschrocken den Kopf ein. „Nein, nein. Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich war nur neugierig …“ Seine Stimme verlor sich in einem Windstoß, der um die Ecke fegte und Schnee mitbrachte. Kleine, zu Schnee gewordene Regentropfen. ‚Griselig‘ hatte seine Frau das früher genannt, nicht diese dicken, schweren Schneeflocken, die man so gut zu Schneebällen formen konnte, weil der Schnee nass war und zusammenpappte. Nein, es war dieser feine Schnee, ja, Pulverschnee nannte man ihn, jetzt fiel es ihm wieder ein. Er erinnerte sich noch gut an den Abend, als er und seine Ute hier auf die Insel gezogen waren, mitten im Winter. Alle Kartons waren endlich ausgepackt, und weit nach Mitternacht hatten sie noch einen Spaziergang gemacht. Genau an derselben Ecke wie er vorhin hatten sie gestanden, und Schneegrisel hatte eingesetzt, genau wie jetzt. Sie hatten Arm in Arm verwundert zum Leuchtturm empor geschaut, dessen Strahlen den Schiffen weit draußen Signal gaben und im regelmäßigen Drehen auch die Schneeflocken berührten und aufblitzen ließen. Der Schnee wirbelte, glänzte im Scheinwerferlicht wie goldene und silberne Fünkchen, die nach allen Seiten stoben und sich schließlich auf die raue Backsteinfassade der Christus-Kirchengemeinde und die Treppe vom Haus Rote Erde setzten, auf die Dächer, auf ihre Mützen, überall hin, und die Häuser der Insel in ein Märchendorf verwandelten.
Die Frau stand immer noch in der Haustüre. Sie war blond, ein rötliches Blond, ungefähr Ende zwanzig, und hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie presste die vollen Lippen unwillig aufeinander, und die hellen Augen funkelten ihn an. „Neugierig sind Sie? Auf mein Fenster? Oder wie ich lebe? Das geht Sie gar nichts an. Machen Sie, dass Sie Land gewinnen!“
Franz nickte. „Es tut mir leid, wirklich. Ich wollte nur mal schauen. Ich habe hier einmal gewohnt, wissen Sie? Das ist lange her. Aber ich gehe natürlich. Entschuldigen Sie. Auf Wiedersehen.“
Er trat einen Schritt zurück, zog seine Mütze tiefer ins Gesicht, als ob sie ihn vor dem Schnee schützen könnte, bückte sich und griff nach seinem Koffer.
„Warten Sie mal“, sagte die Frau. Franz drehte den Kopf und sah, dass sie ihn neugierig musterte, beinahe ungläubig. „Wie heißen Sie?“, fragte sie.
„Franz“, stotterte er, „Franz Hoffmann. Ich habe bis vor dreißig Jahren in diesem Haus gewohnt, mit meiner …“ Er stockte, es fiel ihm schwer, aber er sah, dass die junge Frau auf das Ende des Satzes wartete, „… mit meiner Frau und meinem Sohn.“ Er konnte es aussprechen. Er konnte es dieser fremden Frau sagen, was er sonst niemandem sagen konnte. Dass er einmal eine Familie hatte, dass er einmal glücklich gewesen war und es in seinem Leben wunderbare Weihnachtsfeste gegeben hatte.
Die blonde Frau schwieg und musterte ihn immer noch von oben bis unten. „Sie sind Architekt, nicht wahr?“, fragte sie schließlich. Es klang eher wie eine Feststellung.
Franz sah sie verwundert an. „Woher wissen Sie das?“
Die Frau schien einen Moment zu überlegen, dann deutete sie mit dem Kopf auf die Haustüre, die hinter ihr immer noch halb offen stand. „Kommen Sie rein.“
Franz zwinkerte überrascht. „Herein? Ich meine, zu Ihnen herein? Aber …“
„Zu wem sonst?“, sagte die Frau und um ihre Mundwinkel zuckte es, als sei sie amüsiert, aber ihre Augen hatten nach wie vor einen strengen Ausdruck. Ihr Blick huschte über seine Gestalt. „Ihre Schuhe sind abgelaufen und nicht für Winterwetter geeignet, der Mantel ist zu dünn für diese Jahreszeit, und Sie sehen nicht so aus, als wären Sie heute Abend noch irgendwo eingeladen. In das Köfferchen passt bestenfalls etwas Wäsche zum Wechseln. Also erzählen Sie mir nicht, dass Sie schon etwas Besseres vorhaben. Kommen Sie rein und wärmen Sie sich auf.“ Franz nickte verwundert, und als die Frau sich umdrehte und zur Haustür hineinging, folgte er ihr.
Das Erste, was er im Inneren sah, war der Boden in dem langen Flur. Er war immer noch mit diesen schwarz-weißen kleinen Fliesen ausgelegt, die er so liebte. Viele alte Häuser hatten solche Fliesen besessen, und oft hatte er mit Bauherren gestritten, die ihre Häuser zu Ferienunterkünften umbauten, und die den ‚alten Kram‘ aus dem Haus haben und von Grund auf modernisieren wollten. Viel zu viele von diesen schönen alten Bodenfliesen waren achtlos auf den Müll geworfen worden. Aber hier gab es sie noch. Und auch die alte Holztreppe war noch da. Sie stammte aus der Zeit des Kapitäns, der dieses Haus vor über hundert Jahren gebaut hatte. Die mit einem neu aussehenden roten Teppich ausgelegten Stufen und das Geländer mit den Jugendstil-Schnitzereien waren sorgfältig restauriert.
Die Frau nahm ihm seinen Mantel ab und hängte ihn an der Garderobe auf einen Bügel. Vom Flur führte links die Tür in die Küche, ja, er erinnerte sich gut. Die Möbel waren aus hellem Holz, zeitlos, schlicht, fast skandinavisch, alles aufeinander abgestimmt, die Küchenzeile, der Esstisch, Wandregale, nicht so zusammengestoppelt, wie er und Ute sie damals hatten, weil sie sich keine neue Küche leisten konnten. Franz wäre furchtbar gerne im ganzen Haus herumgelaufen und hätte sich umgesehen, aber die Frau deutete auf einen Stuhl und er setzte sich folgsam.
„Ich habe eben eine Kanne Tee zubereitet, aber Sie können auch ein Glas Wein haben.“ Franz nickte verwirrt. Die Frau schmunzelte. „Was denn nun?“
„Eine Tasse Tee wäre schön“, sagte Franz zaghaft, „zum Aufwärmen.“
Sie nickte und stellte ein Stövchen auf den Tisch, nahm eine Schachtel Streichhölzer und zündete das Teelicht an. Franz sah, dass ihre Hand ein wenig zitterte. Fürchtete sie sich vor ihm? Aber warum hatte sie ihn dann hereingebeten? Sie stellte eine Teekanne auf das Stövchen, und aus der Tülle stieg feiner Dampf auf. Sie schob zwei große, bauchige Tassen auf den Tisch und eine Zuckerdose, in der Kandiszuckerstückchen waren. „Haben Sie Hunger?“
Franz wusste nicht mehr, was er denken sollte. Erst hatte sie ihn verscheuchen wollen, das war ihr gutes Recht, und jetzt saß er plötzlich in ihrer Küche und sie bewirtete ihn. Es war angenehm warm im Raum, Tannenzweige in einer Vase verbreiteten würzigen Duft, und das Teelicht roch nach Zimt. Franz schüttelte den Kopf. Er hatte Hunger, er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, nur hätte er sich eher auf die Zunge gebissen, als es zuzugeben. Sein Magenknurren verriet ihn, und die Frau nickte nur. Sie ging wieder an die Küchenzeile, griff hierhin und dorthin, nahm ein Holzbrett, Messer, öffnete den Kühlschrank, nahm Sachen heraus, räumte sie wieder hinein, werkelte ein paar Minuten schweigend und ehe Franz sich versah, hatte er eine Platte mit Butterbroten vor sich stehen, mit Wurst und Käse dick belegt, auch eine Papierserviette legte sie dazu. „Greifen Sie zu“, forderte sie ihn auf, „bei mir muss niemand hungrig bleiben.“ Sie setzte sich ebenfalls an den Tisch, goss Tee in beide Tassen und nickte ihm aufmunternd zu. Franz zögerte, aber der Hunger siegte und so aß er schnell ein Brot, ein zweites, und schließlich war die ganze Platte leer. Die Frau sagte während der ganzen Zeit nichts, trank ab und zu einen Schluck Tee und beobachtete ihn. Aber es war kein unbehagliches Schweigen zwischen ihnen beiden, auch sah sie nicht misstrauisch aus, wie auf dem Sprung, oder ungeduldig, dass er endlich wieder gehen möge, es war ein Betrachten, wie um ihn kennenzulernen. Sie sah ihm beim Essen zu, eher beiläufig, wie man jemandem zusieht, den man schon lange kennt, so, als sei dies ein ganz normales Abendessen.
Franz tupfte sich den Mund ab, legte die Serviette auf die Platte und schob sie auf die Seite. „Vielen Dank“, sagte er, „das war sehr gut.“
„Möchten Sie noch was?“, fragte die Frau.
Franz schüttelte den Kopf. Er war satt, er war sogar sehr satt. Er hätte kein einziges Brot mehr verdrücken können. Solche Mengen Essen war er nicht mehr gewohnt. „Danke“, sagte er, „das ist sehr nett von Ihnen, aber es war mehr als genug.“
Die Frau trank weiterhin ihren Tee, sagte aber nichts, so als ob sie darauf wartete, dass er Fragen stellte oder das Gespräch begann.
„Wohnen Sie schon lange hier?“, fragte Franz. Sie kam ihm bekannt vor, aber sie war zu jung, um sie noch von früher zu kennen. Vielleicht aber kannte sie noch Nachbarn von früher, konnte ihm sagen, was aus dem einen oder anderen geworden war, ob es die kleinen Geschäfte in der Nachbarschaft noch gab, ob der Bäcker an der nächsten Ecke immer noch diese köstlichen Törtchen verkaufte, und ob die Kirche immer noch am Sonntagmorgen um sieben Uhr alle Glocken läutete. Als er und Ute anfangs in dieser Wohnung lebten, waren sie vor Schreck beinahe aus dem Bett gefallen, später hatten sie sich daran gewöhnt und wachten nicht einmal mehr davon auf.
„Ich wohne hier schon mein ganzes Leben“, sagte die Frau und beobachtete ihn wieder.
„Hier?“, fragte Franz ungläubig, „dann müsste ich Sie doch … Moment …“ Er rechnete nach. Vermutlich war sie kurz nach seinem Auszug hierhin gekommen, als kleines Kind, ja, das könnte stimmen. Vielleicht war damals eine neue Familie hier eingezogen, als er und Ute und Michael, ihr kleiner Sohn, ausgezogen waren.
„Nein, Sie kennen mich nicht“, sagte die Frau. Sie sah ihn lange an. „Erzählen Sie mir von der Zeit, als Sie hier gewohnt haben. Und was danach aus Ihnen geworden ist.“ Franz wandte den Blick ab. Sie beobachtete ihn immer noch, forschend, aber nicht unfreundlich. Sie schien ehrlich interessiert zu sein, seine Geschichte zu hören. Und so erzählte er, wie er und Ute und dann das Kind hier gelebt hatten.
Er war ein junger Architekt gewesen, der sich, nach einigen Jahren in verschiedenen Architekturbüros, selbständig gemacht hatte. Seine Frau liebte die Nordsee und hatte die Insel schon vorher gekannt. Franz hatte sich auf eine Stellenanzeige beworben und das Büro von einem älteren Kollegen übernommen, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. Es hatte damals viel zu tun gegeben auf der Insel, weil viele Hausbesitzer anbauen, umbauen, Ferienwohnungen errichten wollten, und Franz war vollauf beschäftigt, und er war gut in seinem Beruf, manchmal waren sogar Aufträge vom Festland, aus Emden oder Leer, gekommen. Ute hatte nebenbei, als zweites Standbein, eine kleine Zimmervermittlung betrieben.
Die Frau nickte ab und zu, während er erzählte. Hier im Erdgeschoss, im hinteren Teil des Hauses, war sein Büro gewesen. Bestimmt würde sie ihm die Räume zeigen, wenn er danach fragte, aber sie machte keine Anstalten, aufzustehen. Und Franz redete weiter, es sprudelte alles aus ihm heraus. Eine tolle Nachbarschaft hatten sie gehabt, eine Stammkneipe gleich an der nächsten Ecke, wo sich abends oft alle trafen, zwischen achtzehn und achtzig waren sie gewesen, eine große Gruppe, die auch gemeinsam Ausflüge ins Ostland und Strandfeste plante, meist im Herbst, wenn weniger Touristen auf der Insel waren und alle mehr Zeit hatten. Ute und er hatten sich so unglaublich wohl gefühlt, obwohl sie beide nicht von Borkum stammten. Ihre Vermieterin war Mittelpunkt dieser Aktivitäten gewesen, ein Organisationstalent, großzügig, handfest und fürsorglich, ihr hatte außer den zwei benachbarten Häusern ein kleines Café an der Ecke gehört, aber sie hatte vor allem von den Mieteinnahmen gelebt und war eine amüsante, lebenslustige Frau gewesen.
Dann waren Franz und Ute in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Gleich zwei Kunden hatten die Honorare nicht gezahlt, ein dritter mit großer Verspätung, es gab gerichtliche Auseinandersetzungen, und obwohl Ute sparsam gewirtschaftet hatte, blieb kaum genug Geld zum Leben. Es hatte sich herumgesprochen, dass er prozessierte, das Warum hatte niemanden interessiert, aber es waren kaum noch neue Aufträge hereingekommen. Zu groß war das Misstrauen möglicher Kunden gewesen, ebenfalls in einen Rechtsstreit verwickelt zu werden.
Und er hatte eine große Dummheit begangen. Der kleine Michael war gerade ein Jahr alt gewesen, zu der Zeit immer kränklich, und die Sorgen und das quengelnde Kleinkind hatten an seinen Nerven gezerrt. Oft war Franz allein in die Kneipe gegangen, während Ute zu Hause auf den Jungen aufpasste. Eines Abends war es dann passiert – er hatte eine Nachbarin nach Hause gebracht, nämlich besagte Vermieterin, aber anstatt sich an der Haustür zu verabschieden, hatte er sich von ihr noch zu einem Kaffee überreden lassen und schließlich waren sie in ihrem Bett gelandet. Erst im Morgengrauen war er nach Hause geschlichen.
„Es war ein Ausrutscher“, sagte Franz und hielt den Kopf gesenkt, „ich mochte sie gern, aber mehr war da nicht. Ich hatte getrunken und sie auch. Ich hatte nicht vor, mit ihr etwas anzufangen oder Ute zu betrügen, es war mir einfach alles über den Kopf gewachsen.“
Ute war dahintergekommen, irgendwie, Franz hatte nie erfahren, woher sie von der Nacht wusste, aber sie hatte darauf bestanden, wegzuziehen, und Franz hatte es verstehen können. So waren sie umgezogen, aufs Festland, Franz hatte Arbeit gesucht, einen Job in einem Architekturbüro in Hannover gefunden, aber es hatte ihm keinen Spaß gemacht. Statt Eigenheimen hatte er nun Büros planen müssen, eintönige Aufgaben, und schlechter bezahlt. Der Schuldenberg wurde größer, weil Franz einen Prozess verloren hatte, der Junge war in den Kindergarten gekommen, dann in die Schule, es musste Kleidung angeschafft werden, Schulsachen, Ute hatte immer nur das Beste für ihn gewollt, die Miete stieg, und Franz hatte kaum gewusst, wie er alles bezahlen sollte.
Franz redete und redete, und die Frau hörte einfach nur zu. Franz wunderte sich, warum er von diesen Dingen sprach, es war doch so lange her, und es konnte sie doch kaum interessieren, aber sie unterbrach ihn kein einziges Mal. „Schließlich wuchsen uns die Schulden über den Kopf“, sagte Franz, „und dann machte ich den nächsten großen Fehler, den größten überhaupt – ich blieb eines Abends länger im Büro und gab vor, noch zu arbeiten. Ich wartete, bis alle weg waren, und ging dann im Büro des Chefs an den Tresor. Ich wusste, dass immer Geld darin lag. Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass man mir ziemlich schnell auf die Schliche kommen würde. Ich wollte mich nur von diesen drückenden Schulden befreien, ein für allemal. Als ich das Geld gerade herausgenommen hatte und in eine Tasche packen wollte, kam der Chef zurück. Er hatte wohl etwas vergessen. Er war ein ziemlich jähzorniger Mann und bärenstark dazu. Er ging gleich auf mich los, wir prügelten uns, und irgendwie gelang es mir, ihn von mir wegzuschubsen, er rutschte auf dem Teppich aus, schlug mit dem Kopf hart gegen die Schreibtischkante und blieb bewusstlos liegen. Ich wollte zuerst abhauen, jeder hätte einen Raubüberfall vermutet, aber als er sich nicht mehr rührte, habe ich es mit der Angst zu tun bekommen und einen Krankenwagen gerufen. Er hatte einen Schädelbasisbruch und Hirnblutungen, lag noch etwa zehn Tage im Koma und ist dann gestorben. Ich bin zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden, die ich voll abgesessen habe. Vor ein paar Tagen hat man mich entlassen. In meinem Koffer ist alles, was ich noch besitze.“
Die Frau sagte nichts, sondern starrte nur nachdenklich in die Flammen der Kerze des Stövchens. „Und warum sind Sie jetzt hierhin gekommen?“
Franz dachte einen Augenblick nach, er war selber nicht ganz sicher. Dann nickte er. „Ich wollte Borkum wiedersehen. Ich wollte nie hier weg, hier war ich glücklich. Die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich wirklich glücklich war.“
Es war still in der Küche, nur das Flämmchen unter der Teekanne britzelte ganz leise, und an den Fensterscheiben rieselten kleine Eiskristalle entlang. Das Schneegestöber draußen war dichter geworden, der Wind hatte zugenommen, und die Flocken wurden allmählich dicker und trieben fast waagerecht am Fenster vorbei. Franz musste weiter, zu seiner Pension, er hatte sich hinreißen lassen, hatte geredet und geredet. Er verstand nicht, warum er dieser fremden Frau das alles erzählt hatte. Wahrscheinlich, weil er überhaupt noch nie jemandem seine Geschichte erzählt hatte. Weil keiner sie hatte hören wollen. Er hatte im Gefängnis gesessen, er war ein Verbrecher, er hatte einen Menschen getötet. Nicht mit Absicht, es war ein Unfall gewesen, aber er war schuld, er hätte diesen Diebstahl gar nicht erst begehen dürfen. Ja, er hatte seine Strafe verdient, er war dumm gewesen, sehr dumm, und er hatte dafür bezahlt. Ute hatte sich von ihm scheiden lassen, als er ins Gefängnis musste, war irgendwo nach Süddeutschland gezogen und hatte den Jungen natürlich mitgenommen. Der kleine Michael hatte ihm noch einige Briefe geschrieben, in krakeliger Kinderschrift, aber eines Tages hörte auch das auf. Er wusste weder, wo sie jetzt lebten, noch, wie es Ute und seinem Sohn seitdem ergangen war.
Franz starrte auf seine Teetasse, die er in beiden Händen hielt. Sie war fast ausgetrunken, und seine Finger waren wieder warm. Es wäre besser, er ginge möglichst schnell. Wie kam er überhaupt dazu, dieser Frau sein ganzes Leben zu erzählen? Franz lugte vorsichtig zu ihr hinüber. Sie starrte auf den Tisch und rührte sich nicht. „Jetzt kennen Sie meine Geschichte. Sie fing in diesem Haus an, tja, und irgendwie endet sie auch hier.“
Die Frau hob den Kopf und sah ihn lange an. „Was haben Sie jetzt vor?“, fragte sie. Franz zuckte mit den Achseln. Darüber hatte er sich keine Gedanken gemacht. Er würde sich einige Tage auf der Insel aufhalten, sich umsehen, Erinnerungen auffrischen und dann wieder aufs Festland zurückfahren, irgendwohin, und dann seine Rente beantragen. Viel würde er ohnehin nicht bekommen. Am liebsten wollte er wieder arbeiten, als Architekt, seine Augen waren noch gut genug, um am Zeichentisch zu sitzen, aber wer würde ihm schon Arbeit geben, in seinem Alter und mit seinem Lebenslauf. Niemand. Franz wollte und konnte nicht weiter denken als bis zum nächsten Morgen, bis zum Ende der Woche vielleicht, eins musste zum anderen kommen, es würde sich schon irgendetwas ergeben, aber der Gedanke, dass sich wahrscheinlich nichts ergeben würde, dass er irgendwo in einem billigen Zimmer die restlichen Jahre seines Lebens verbringen würde, diesen Gedanken ließ er möglichst nicht an sich heran.
Das Schneegestöber draußen wurde immer dichter, und Franz schauderte innerlich bei dem Gedanken, in seinen dünnen Sachen wieder hinaus zu müssen.
„Wie wäre es, wenn Ihre Geschichte nicht in diesem Haus endet, sondern weitergeht?“, fragte jetzt die Frau.
„Wie meinen Sie das?“, fragte Franz verblüfft.
„Sie haben die ganze Zeit geredet, und es war berührend, was Sie über Ihr Leben berichtet hast. Sie brauchen Arbeit und eine Wohnung, das stimmt doch, oder? Platz ist hier genug, die obere Etage nutze ich praktisch nicht. Ich bin ebenfalls Architektin, wir könnten zusammenarbeiten.“
„Aber …“
„Ich verstehe, dass das jetzt ein bisschen plötzlich kommt. Aber Sie sind mir sympathisch, sehr sogar. Arbeit gibt es mehr als genug, an der Reede wird in den nächsten Jahren ein ganz neues Stadtviertel entstehen, ich werde eine Menge Aufträge bekommen. Und ich habe gute Gründe, warum ich Ihnen das anbiete. Haben Sie sich nicht gefragt, wie ich heiße, oder wer ich bin?“
Franz hatte nicht auf das Klingelschild gesehen, als er am Haus angekommen war, und sich nicht nach ihrem Namen erkundigt. „Oh“, sagte er, „es tut mir leid. Wissen Sie, ich hatte lange niemanden zum Reden, und Sie haben die ganze Zeit so aufmerksam zugehört, dass ich dachte … es interessiert Sie … Entschuldigen Sie.“ Er stand auf. „Ich gehe besser, Frau … wie heißen Sie denn?“
„Wynands“, sagte die Frau, „Katrin Wynands.“ Sie sah ihn abwartend an.
Franz dachte nach. „Anita Wynands hieß damals unsere Vermieterin. Ihr gehörte dieses Haus und das Haus nebenan. Und das Café an der Ecke. Sie ist … Moment …“ Franz setzte sich wieder und schloss die Augen. In seinem Kopf rasten die Gedanken.
Katrin nickte. „Sie war meine Mutter. Ich bin im Haus nebenan geboren und aufgewachsen und hier eingezogen, als sie vor ein paar Jahren gestorben ist. Ich wollte nicht drüben in der kleinen Wohnung bleiben, und hier ist auch mehr Platz für ein Büro.“ Katrin hatte schon immer hier gelebt, hatte sie gesagt. In dieser Straße, im Haus nebenan und jetzt hier, in seiner ehemaligen Wohnung. Ihre Mutter war die Nachbarin, mit der Franz sich auf die einmalige Liaison eingelassen hatte. Katrin war ungefähr dreißig Jahre alt. Das rötlichblonde Haar hatte sie von ihrer Mutter geerbt, aber den schlanken Körperbau und die klaren, offenen Gesichtszüge vom Vater. Von ihm.
Es war ganz still in der Küche, bis auf ein leises Knistern der Kerzenflamme. Franz‘ Herz schlug so fest, dass er glaubte, Katrin müsste es hören können.
„Nein“, sagte Franz und schüttelte den Kopf, „nein, nein, nein, das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein.“ Katrin lächelte. Ein warmherziges, freundliches, verzeihendes Lächeln, gemischt mit Vorsicht und ein wenig Belustigung. „Meine Mutter hat mir gesagt, wer mein Vater ist, sobald ich alt genug war, es zu verstehen. Ich habe nachgeforscht, aber dich nicht finden können. Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Jetzt weiß ich auch, warum. Dass du allerdings eines Tages hier wieder auftauchen würdest, und ausgerechnet am Heiligabend, damit habe ich nicht gerechnet.“ Sie stand langsam auf, so, als ob sie Angst hätte, ihn zu verscheuchen, und streckte ihm eine Hand entgegen. „Ich habe mir so gewünscht, dass wir uns eines Tages kennenlernen, Vater. Frohe Weihnachten.“
Es begab sich an einem Tag Anfang Oktober, dass ich morgens schlaftrunken in meinen Wäscheschrank langte – und in diesem Moment dort drin ein Brett abbrach. Genauer gesagt, nicht das Brett, dem es nach wie vor gut geht, sondern diese kleinen Halterungen, die man rechts und links, vorne und hinten von innen in die Schrankwände steckt, damit das Brett aufliegt. Die waren abgebrochen, und zwar alle vier.
Ich fühlte mich (bitte, morgens um sieben!) weder in der Lage, den Schaden genauer zu begutachten, noch, eine Entscheidung zu treffen, wie es mit besagtem Brett bzw. den kleinen Halterungen weitergehen sollte. Ich zog also unter dem zusammengebrochenen Brett irgendein T-Shirt heraus, schloss die Türe und fuhr zur Arbeit.
Erste Inaugenscheinnahme des Schadens am Abend verriet mir: Materialermüdung. Die Halterungen waren glatt abgebrochen, der Pin steckte jeweils noch drin in der Schrankwand, und nur einen gelang es mir, herauszufummeln. Ersatzpins, die von anderen Schränken hier noch herumfliegen, passten allesamt nicht.
Nun ist dieser Wäscheschrank alt. Sehr alt. Mein Mann bekam ihn als junger Schauspieler im Jahre 1969 (aus Mitleid vermutlich) von einem Nachbarn geschenkt. Damals kam mein Mann mit buchstäblich nichts – außer einem großen Korbkoffer – aus Salzburg, um in Kleve ein Engagement anzutreten. Damals schon war der Schrank also nicht neu.
Inzwischen hat er (der Schrank) (der Mann glaub ich auch) sechs oder sieben Umzüge hinter sich, beherbergte nach der Wäsche auch mal Akten, Zeitschriften, Foto- und Heimtierzubehör, Kinderspielzeug, und dann wieder Wäsche, weil er nach dem Umzug in die jetzige Wohnung haargenau in mein Zimmer passte.
Aber alles hat mal ein Ende, so dachte ich. Normalerweise benutze ich Kleidungsstücke und vor allem Möbel, die ich mag, und die mir nützen, wirklich, bis sie auseinanderfallen. Auch Dinge haben eine Geschichte, die man respektieren soll. Und dieser Wäscheschrank besonders (siehe oben). Aber genug ist genug. Den Gedanken, dem Schätzchen mit Leim, Schrauben und evtl. sogar mit Schleifpapier und frischer Farbe zuleibe zu rücken, verwarf ich wieder: haben wir doch ein Ikea in der Nähe. Ikea Kaarst, sogar mit eigener S-Bahn-Haltestelle.
Und siehe da: online fand ich HURDAL. In den Abmessungen fast identisch mit dem anderen, ein schwedischer Traum in sattgrün. Selbstverständlich zum Selberzusammenbau. Die Pakete von Größe und Gewicht her sowohl für mich händelbar als auch in meinen Opel Corsi passend (bei umgeklappter Rückbank). Ich studierte die Bauanleitung im Internet: ja, schon eine Herausforderung, aber machbar. Ist ja nicht der erste Schrank, den ich zusammenbaue, manche davon sogar ohne Anleitung.
Problem: Ikea hatte gerade in Kaarst neu gebaut, der Umzug von der alten in die neue Filiale stand bevor, das alte Möbelhaus kurz vor der Schließung schon fast leergeräumt, die neue noch nicht eröffnet, und das großartige Möbelstück war vorübergehend nicht erhältlich.
Ich fixierte also das abgebrochene Brett mit ein paar Schrauben (jawohl, Frau hat sowohl Spax-Schrauben als auch Akkuschrauber im Haus!) und übte mich in Geduld. Nach der Eröffnung der neuen Filiale, die wenige Tage später bevorstand, würde der neue Schrank ja wohl wieder zu kriegen sein und der alte könnte endlich auf den wohlverdienten Sperrmüll wandern.
Das war vor vier Wochen.
Die Schrauben unterm Brett halten immer noch, allein… der neue Schrank war auch weiterhin nicht erhältlich, weder bei Eröffnung der neuen Filiale, noch danach. Schließlich fasste ich mir ein Herz und stellte online unter dem HURDAL (hach, dieses Grün!!) die Mailbenachrichtigung ein. Und zum voraussichtlich angegebenen Zeitpunkt (gestern, ein Mittwoch) kam dann auch tatsächlich eine Mail: der Schrank ist wieder in Kaarst verfügbar. Zwar nur wenige Exemplare, aber immerhin.
Sehr gut. Ich plante also umgehend das Wochenende: am Freitagabend den Schrank holen (kauft ja nicht jeder genau diesen Schrank, bis dahin sind sicher noch welche da), am Samstag zusammenbauen, vielleicht den Sonntag noch. Hach, herrlich! Lego für Erwachsene! Ich liebe es!
Das war, wie gesagt, gestern. Mittwoch. Heute Nachmittag (Donnerstag) warf ich noch einen Blick in die Webseite: nur noch ein Schrank da in Kaarst. Huch. Also flink den Feierabend umgeplant. Dann muss ich heute noch hinfahren. Dieser letzte Schrank ist meiner!
Nun stand diesem Vorhaben lediglich die Bahnfahrt von Köln nach Hause im Weg. Und es kam, wie es kommen musste: übers Handy von unterwegs wiederum den Bestand abgefragt:
„Dieser Artikel ist in deinem Einrichtungshaus zurzeit nicht erhältlich. Vorausichtliches Lieferdatum: Fr 24 Nov – Fr 1 Dez. Bitte schau während dieser Zeit noch einmal vorbei.“
Der letzte Schrank war also inzwischen auch weg. Ich mich also schweren Herzens wieder für den Mailalarm angemeldet. Beziehungsweise, ich wollte es, denn es passierte das hier:
Ups. Da ist etwas schiefgelaufen! Du hast schon eine Benachrichtigung für dieses Produkt angefordert.
Ab da sprach ich in rot.
Ja, hab ich, verdammt! Nur habt Ihr diesen blöden Schrank schon wieder nicht da!! Und nein, ich will nicht nach Düsseldorf zum Ikea fahren, ich hasse Düsseldorf! Außerdem kaufe ich aus Prinzip nur vor Ort und regional!
Nun bin ich ein Mensch, der durchaus Geduld hat, und auf ein vorübergehend nicht erhältliches Teil auch mal warten kann. So habe ich es noch gelernt im Zeitalter der drei Fernsehprogramme – Geduld haben. Aber außerdem glaube ich an so etwas wie Zeichen. Wenn es wieder und wieder und wieder nicht klappt mit einem Vorhaben, dann soll es vielleicht einfach nicht sein. Meistens stellt sich hinterher heraus, wofür es gut war, wenn etwas nicht so läuft wie gedacht. Vielleicht würde mir genau in dem Moment, wo ich den neuen Schrank im Ikea-Lager abholen will, die Decke auf den Kopf fallen. Oder sich ein Erdloch auftun. Oder Hobbits meinen Corsi entführen, weil sie auch so einen tollen Schrank haben wollen. Man weiß ja nicht.
Morgen kaufe ich Schleifpapier und sattgrüne Farbe.
Was liegt näher, als der Zeitung im Ort (bzw. auf der Insel), wo der Roman spielt, ein Interview zu geben? Ich habe mich über diese Gelegenheit sehr gefreut und bedanke mich herzlich bei Martina Scheperjans von der Borkumer Zeitung für das nette Gespräch und den überaus freundlichen Artikel!
Zeit für Throwback Thursday #tbt: Woran hast du August 2016 geschrieben?
Tatsächlich habe ich schon mit der Geschichte angefangen, die in diesem Jahr Ende Juli erschienen ist: „Spätsommer auf Borkum“. Im August 2016 war ich auf der Nordseeinsel Borkum in Urlaub, habe viel gesehen, viel erlebt, und noch mehr beobachtet, und in meinem Kopf formte sich langsam aber sicher die Geschichte; erste Notizen und Szenen sind damals entstanden.
Natürlich gibt es die Schauplätze im Roman. Es gibt die Westerstraße, das Schmuckgeschäft mit den Ringen und Kettenanhängern, es gibt die Fußgängerzone mit den vielen Restaurants und Kneipen, sogar das „Lord Nelson“ und die Pizzeria. Das Lebensmittelgeschäft am oberen Ende der Fußgängerzone heißt tatsächlich „Inselwolf“, die Milchbuden gibt es, die kleinen Holzhäuschen der Strandzeltvermieter, das Atelier der Inselmalerin – all das wird der Borkum-Urlauber, der mein Buch gelesen hat, wiedererkennen.
Es gibt auch das Wattwanderbüro mit den Gummistiefeln davor am Busbahnhof, genau wie beschrieben. Drinnen steht sogar eine ausgestopfte Möwe auf dem Tresen – zumindest stand sie dort, als ich das letzte Mal drin war.
Was es nicht gibt, ist das Haus der Bakker-Brüder in der Westerstraße. Es gibt Häuser, die ganz ähnlich aussehen, aber nicht dort, und so, wie es beschrieben wird, ist es komplett meiner Phantasie entsprungen. Also bitte nicht danach suchen oder irgendwo klingeln…
Annes Ferienwohnung gibt es auch – allerdings nicht auf Borkum. Beschrieben habe ich eine Wohnung, die ich vor einigen Jahren in Greetsiel bewohnt habe.
Die Charaktere sind erfunden. Alle bis auf, ich sag mal, ein bis zwei. Susanne gibt es tatsächlich, sie hält Schafe, strickt und schreibt Krimis, und Vorbilder für Marten waren ein bis zwei Wattführer auf Borkum, mein Tankwart und ein Kollege.
Alles, was sonst realistisch ist oder erscheint, wurde gründlich recherchiert. Den Offshore-Windpark Tahkoluoto in Finnland, dessen Schreibweise ich immer wieder nachsehen muss, den gibt es auch, wenn ich auch stark bezweifle, dass jemand namens Tammo Bakker bei den Vorbereitungen mitgemischt hat.
Es ist nicht nur eine Tradition und guter Brauch in vielen Familien, sondern wissenschaftlich erwiesen: abendliches Vorlesen ist gut für die Kinder. Es fördert das Sprachverständnis, die Bindung an die Bezugsperson, die Phantasie – kurz, es ist durch nichts zu ersetzen. Und wer jemals gesehen hat, wie sich der leseunkundige Nachwuchs abends in seinem Bettchen in die Kissen kuschelt, während man mit leiser Stimme zum gefühlt vierundachtzigsten Mal die Geschichte von der Henne und dem Brot („… und ich erst recht nicht!“, mit Betonung auf dem ‚erst recht‘) vorliest, der weiß, dass dies alles stimmt.
In meiner Kindheit (bevor ich Lesen gelernt hatte und selber zur Leseratte wurde) gab es außer draußen spielen und dem abendlichen Vorlesen noch nicht viel kindliche Unterhaltung. Selbst Fernsehen war in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhundert, in denen ich aufwuchs, noch spärlich in Gebrauch und unmittelbar nach der Tageschau war bereits Sendeschluss. Oder so. Vorlesen gehörte auch in unserer Familie dazu, wenn ich mich auch nicht mehr genau erinnern kann, wer von der Familie eigentlich vorgelesen hat. Ich glaube, in den meisten Fällen war es mein großer Bruder, was die Auswahl der Lektüre erheblich beeinflusste: neben den bekannten Märchenbüchern waren es vor allem die frühen Pixi-Bücher und Micky-Maus-Hefte. Beides hatte erheblichen Einfluss auf mein Leben. Ich behaupte sogar, dass die Geschichten aus dem Micky-Maus-Heft, zumindest in der Ära der genialen Übersetzerin Dr. Erika Fuchs, einen nicht unbedeutenden Anteil an meiner Allgemeinbildung hatten.
Halt.
Eines fehlt in den vielen pädagogischen Anschauungen: was weiß man eigentlich über die Spätfolgen des Vorlesens? Ich meine jetzt nicht behandlungsbedürftige Psychosen aufgrund eines falsch übermittelten Familienbildes, oder jahrzehntelange Albträume infolge vorgelesener Gruselgeschichten, nein.
Ich behaupte, das Vorlesen im Kleinkindalter prägt auf eine Weise, die meiner Meinung nach noch völlig unerforscht ist. Ich selber bezeichne es als „Sitzungsnarkolepsie“.
Wir erinnern uns an die Ausgangssituation: Kind kuschelt sich in die Kissen, liegt bequem, fühlt sich warm und geborgen, während eine Person mit leiser Stimme spricht. Kind fällt irgendwann in Tiefschlaf und kann sich anschließend an nichts erinnern. Zumindest nicht daran, dass die Nachttischlampe ausgeknipst wurde, die Bezugsperson das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.
Die Spätfolge (oder aber frühkindliche Prägung) ist nun meiner Meinung nach, dass der Erwachsene in vergleichbaren Situationen umgehend in Tiefschlaf fällt oder zumindest sehr dagegen ankämpft. Schule, Konferenzen, Kirche, Bahn – überall, wo man mehr oder weniger gemütlich sitzt, monotone Geräusche auf einen einströmen oder eine Stimme sanft salbadert – die Möglichkeiten sind unendlich und jeden Tag erlebt man wenigstens eine davon.