Wutrede an einen Unbelehrbaren

Bildschirmfoto 2015-10-22 um 22.11.22Es reicht mir. Ich mag diese dummen Sprüche und Kommentare einfach nicht mehr sehen. Mir wird inzwischen bei jeder dieser Hassreden und falschen Nachrichten speiübel. Brauner Müll in allen Foren, auf Facebook, Twitter, in Kommentaren unter Zeitungsartikeln, überall. Als ob das ganze Land nur noch mit dummen, verbohrten, hasserfüllten Menschen besiedelt wäre. Es langt!

Was aber tut man, wenn jemand aus der unmittelbaren Umgebung, mit dem man bei Facebook „befreundet“ ist, denselben Müll verteilt? Wenn ich auf der Facebookseite von jemandem, den ich gut kenne (Korrektur: zu kennen glaubte) dieselben unreflektierten, hasserfüllten und durch und durch falschen Sprüche und Behauptungen lesen muss?

Ich habe lange überlegt und dann so etwas wie „Counter Speech“ versucht. Habe um Quellenangaben gebeten, versucht, sachlich nachzufragen, zu argumentieren, zu widerlegen. Herauszufinden, woher dieser Hass und diese Ablehnung kommt. Keine Chance. Verbohrt, dicht, alles total dicht. Genauso dicht, wie nach der Meinung dieses speziellen jungen Mannes die Grenze zu Deutschland gemacht werden soll, damit nur ja kein „Asylbetrüger“ mehr hier rein kommt, die ja sowieso alle nur unser Geld wollen. Und endlich ist mir der Kragen geplatzt.

Das hier habe ich ihm geschrieben:

Weißt Du, ich bin kein Politiker. Ich weiß nicht, ob man 3.000 Kilometer Grenze einfach so „dicht“ machen kann. Und ich bin auch nicht der Meinung, dass mit der Asylpolitik in diesem Land alles richtig läuft und gelaufen ist, da bin ich völlig bei Dir. Da stimmt so einiges nicht. Ich kriege nur langsam die Wut, dass ich bei einem intelligenten Burschen wie Dir (dachte ich jedenfalls) dieselben dämlichen Lügen und Sprüche und grobe Vereinfachung lesen muss wie an so vielen anderen Stellen im Internet. „Lügenpresse“ ist ein Ausdruck, den Du eifrig benutzt – hast aber kein Problem damit, jede noch so hanebüchene Meldung hier auf Facebook sofort und ohne Nachfrage zu glauben und weiterzuverteilen, sofern sie nur irgendwie in Dein Weltbild passt. Beschwerst Dich, dass Du in die rechte Ecke gestellt wirst – Du stellst Dich doch selbst dorthin, indem Du Nazi-Jargon benutzt! „Lügenpresse“ ist zum Beispiel so ein Wort.

Natürlich gibt es mit dem Ansturm von Menschen jetzt eine Menge Probleme zu lösen, das bestreitet keiner, aber DIE Patentlösung hat wohl niemand. Es gibt keine Blaupause dafür. Noch nie seit dem zweiten Weltkrieg waren so viele Flüchtlinge weltweit unterwegs, und nur ein Bruchteil kommt überhaupt hier bei uns an. Es gab auch keine Blaupause, als über eine Million „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus der DDR die damals viel kleinere Bundesrepublik „überschwemmt“ haben. Auch das haben wir geschafft, mit Bravour, und das Problem angepackt, ohne lange zu fragen.

Eines weiß ich aber auf jeden Fall: die allermeisten dieser Menschen, die sich jetzt auf den Weg nach Europa machen, sind in großer Not, aus welchen Gründen auch immer, mindestens ein Drittel davon sind nachweislich Kinder. Und wenn jemand in Not ist, helfe ich, ich spende Kleidung, ich gebe Geld, soweit ich kann, ich transportiere, ich packe mit an, ohne Wenn und Aber und ohne auf die Hautfarbe und die Herkunft zu gucken. Das ist mir völlig egal. Jeder dieser Menschen, denen ich bisher begegnet bin, ist unendlich dankbar, und das hat nichts, GAR NICHTS mit Geld zu tun. Vielleicht müsstest Du diese Erfahrung einfach auch mal machen.

Ich bin fest davon überzeugt, dass ich mit meiner Einstellung viel näher dran bin an den sogenannten christlichen Werten des Abendlandes, die es ja angeblich so vehement zu verteidigen gilt; sehr viel näher dran als jeder, der dumme Parolen brüllt oder postet, ansonsten aber keinen Finger krumm macht. Außer, es gilt eine Bierdose zu öffnen.

Diese Parolenbrüller hatten wir in diesem Land schonmal, mit den selben Sprüchen – und wir wissen, wohin es geführt hat. Sie haben das Land, dass sie vorgeblich „verteidigen“ wollten, zugrunde gerichtet, und zwar mehr als gründlich. Mehr ging nicht. Ich will nicht, dass so etwas wieder passiert.

Wir sollen uns erst einmal um die Armen und Obdachlosen hier kümmern? Kümmerst DU Dich denn? Sag mir doch, wo Du Dich engagierst und was Du tust. Nichts vermutlich. Sonst wüsstest Du nämlich: Kleiderkammern, Tafeln und andere soziale Einrichtungen sind genauso für die Hilfsbedürftigen hierzulande da. Niemandem wird wegen der Flüchtlinge etwas weggenommen, im Gegenteil: es entstehen gerade sogar reihenweise neue Jobs, und auch die sozial Bedürftigen und Obdachlosen profitieren von der momentanen Welle der Hilfsbereitschaft, die an Dir offenbar bisher völlig vorbeigeschwappt ist.

Ich weiß nur zu gut, wie das ist, wenn man arbeitslos ist, von Amt zu Amt geschoben wird, eine Nummer ist, kaum Geld und dafür einen Haufen Schulden hat. Wie deprimierend das sein kann, wenn man seinem Kind nicht einmal den Schwimmbadbesuch zahlen kann. Wenn jedes neue Paar Schuhe eine mittlere Katastrophe ist. Wie verarscht man sich fühlt, von allem und jedem. Das habe ich alles selbst erlebt, und zwar jahrelang. Deshalb darf ich Menschen beurteilen, denen es ähnlich geht. Eins habe ich nämlich nie gemacht: anderen die Schuld dafür in die Schuhe geschoben. Ich war nie der Meinung, dass mir irgendetwas „zusteht“, einfach nur, weil es mich gibt. Ich hab nach jedem Strohhalm gegriffen, hab gearbeitet wie eine Blöde, um aus diesem Loch wieder rauszukommen, jeden Tag, jahrelang, und ich habe es geschafft. Darauf bin ich stolz und darf es auch sein. Stolz auf das, was ich selbst und aus eigener Kraft geschafft habe, und nicht auf irgendein nebulöses „Deutschtum“, was immer man sich darunter vorstellen soll. Stolz zu sein, nur weil ich zufällig das Glück hatte, in einem der reichsten Länder der Erde geboren zu werden, ist mir völlig fremd.

Diese Ecke der Bevölkerung, der Du Dich offenbar bereitwillig anschließt, wähnt sich in der Mehrheit. Dieser Eindruck entsteht zwangsläufig, wenn man sich immer nur in denselben Kreisen bewegt. Bei Facebook werden Fotos, Behauptungen, Videos geteilt und nochmal geteilt und erzeugen den Eindruck der großen Masse. Aber das ist falsch. Den 20.000, die in Dresden wieder aufmarschiert sind, halte ich hunderttausende, wahrscheinlich Millionen entgegen, die sich jeden Tag die Beine ausreißen, um zu helfen, und nicht nur das: diesen Staat zu organisieren in einer Phase, in der die Politik überfordert ist. Und sie machen das besser und vor allem schneller als alle Politiker zusammen. Und erst recht besser als die Parolenbrüller. Die sind zu gar nichts nütze. Die hindern nur die anderen daran, das zu tun, was nötig ist, weil man sich zusätzlich zu den immensen Aufgaben auch noch mit der Abwehr unsinniger Ansichten, Kommentare und Angriffe herumschlagen muss. Haltet doch einfach die Klappe und packt mit an – davon haben in diesem Eurem so kostbaren deutschen Land dann alle was. Und dann können wir alle zusammen stolz sein. Aus den richtigen Gründen.