Es ist in den letzten Tagen schon so viel über den verstorbenen Blogger und Twitterer Johannes Korten geschrieben worden, und von allen besser, als ich es je könnte. Trotzdem, es treibt mich um. Ich bin sehr, sehr traurig. Kann man um jemanden trauern, den man „nur“ über die sogenannten „sozialen Netzwerke“ kennt, gekannt hat? Seit dieser Woche beantworte ich die Frage eindeutig mit „ja“.
Im vergangenen Jahr bin ich auf ihn aufmerksam geworden, als er die Aktion „Ein Buch für Kai“ ins Leben rief, die überaus erfolgreich war. Wie das oft so ist, man „stolpert“ bei Twitter über einen Account, der einen neugierig macht, man entdeckt den Menschen dahinter und liest seine Veröffentlichungen mit. Man wird zum „Follower“, wie man das auf Twitter nennt.
Johannes machte mich neugierig. Seine Kreativität, seine Ideen, seine Gedanken, seine Haltung, immer menschlich, aber fest in seinen Überzeugungen, das alles imponierte mir und ich bekam, was im Netz eher selten der Fall ist, Respekt vor diesem Menschen. Dass ich ihn für mich, im Stillen, Johannes nannte, ist eine dieser Eigentümlichkeiten der modernen Medienwelt: eine tatsächlich empfundene Nähe über das Internet, ohne sich zu kennen, ohne sich auch räumlich gegenüber zu sitzen. Vieles, was er schrieb, gefiel mir, berührte mich, und möglicherweise hat auch irgendetwas, was ich geschrieben habe, ihm gefallen.
Bald schon folgte Johannes auch mir auf Twitter, ich weiß noch, dass ich mich darüber freute, das eine oder andere Wort werden wir ausgetauscht haben, das Medium Twitter ist in einem Moment intensiv, und gleich darauf wieder flüchtig. Andere Dinge drängen sich ins Bild, und der gute Gedanke, den man gerade noch hatte, ist weg. Gerade in der letzten Zeit, wo sich viele Ereignisse überschlagen, die man kaum wegstecken kann und die offenbar auch Johannes sehr zugesetzt haben.
Als ich mich zur re:publica im Mai in Berlin anmeldete, stellte ich erfreut fest, dass er dort einen Vortrag über seine Aktion „Ein Buch für Kai“ halten wollte. Der Termin wurde noch vor allen anderen fest notiert, und natürlich saß ich im Publikum:
Hier der ganze Vortrag:
Ich kann nicht besonders gut auf Menschen zugehen, vermutlich war Johannes nach dem Vortrag ohnehin umringt von Bekannten, Freunden, vielleicht musste ich auch weiter, zur nächsten Veranstaltung, ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich ihn nicht angesprochen und flüchtig gedacht, naja, dann im nächsten Jahr. Vielleicht kommt man mal ins Gespräch. Das wäre schön. Ich schreib ihm auf Twitter.
Ich las weiter mit, antwortete hier und da, sah die Fotos mit seinen Kindern, las seinen Blog, der mir in letzter Zeit düsterer erschien. Auch die Fotos. Immer schwarz-weiß, nun ja, das gibt dem Ganzen eine künstlerische Note. Ich dachte, es sei eine allgemeine Unlust, eine Frustration, wie sie einen in diesen unruhigen Zeiten durchaus befallen kann, wenn man oft genug glaubt, gegen Windmühlenflügel zu kämpfen. Ich habe die Zeichen nicht gesehen, so ist das leider, wenn man jemanden eben doch nicht wirklich kennt.
Und dann kam der vergangene Montag, der beschissenste Montag ever, nach einem Wochenende mit Gewalt und Anschlägen, das schon beschissen genug war. Gegen neun Uhr am Morgen las ich verwirrt, dass Johannes gesucht wurde. Sein eigener letzter Tweet tauchte auf, der Link auf seinen Blog funktionierte in diesem Moment aber nicht.
Ich verstand nicht, was da los war, fragte herum. Was bedeutet das, ist das ernst gemeint? Er habe einen Abschiedsbrief hinterlassen, hieß es, und mir wurde eiskalt und gleichzeitig schlecht. Endlich kam ich auf die Seite, las den Brief, einmal, zweimal, verstand immer noch nicht. Wollte nicht verstehen, obwohl ich genau spürte, wie ernst es ist. Wie so viele andere verbreitete ich die Meldung weiter: bitte helft, bitte sucht ihn, vielleicht ist es noch nicht zu spät. Die Polizei war eingeschaltet, ein Hubschrauber kreiste über Bochum, eine Suchmeldung war herausgegeben, die auch über die Medien verteilt wurde.
Gegen Mittag dann die schreckliche Gewissheit: die Polizei hat ihn tot aufgefunden. Er hatte es so geplant, er war in seinem Abschiedsbrief glasklar und entschlossen, es gab kein Zurück. Seinen letzten Tweet mag er zeitgesteuert veröffentlicht haben. Als wir anfingen, nach ihm zu suchen, war es wahrscheinlich schon zu spät. Aber man hofft trotzdem…
Was ist Trauer? Trauer ist ein Gefühl, das einen unvorbereitet mitten ins Herz trifft und schmerzt, unabhängig davon, wie gut man die Person gekannt hat oder nicht. Es ist das intensive Gefühl, im eigenen Leben plötzlich eine Lücke zu spüren, die nicht zu füllen ist. Es fehlt etwas, das ganz besonders und einmalig war. Johannes‘ Tweets, seine Fotos, seine Blogbeiträge werden mir fehlen. Aber Trauer ist noch mehr: es ist vor allem das Bedauern, Dinge nicht gesagt oder getan zu haben, und festzustellen, dass es unwiderruflich zu spät ist. Ich hätte öfter das Gespräch suchen sollen, auf Twitter. Ich hätte ihn ansprechen sollen, im Mai in Berlin, ich hätte ihn fragen sollen, wie es ihm geht, ich hätte ihm sagen sollen, wie sehr ich ihn, den Menschen Johannes Korten, schätze. Ich will mir nicht einbilden, dass genau dieses Quentchen für ihn einen Unterschied ausgemacht hätte. Vielleicht doch? Vielleicht hätten es ganz viele Quentchen sein müssen. Zu viele. Ich weiß es nicht, und ich werde es nicht mehr erfahren.
Ich würde ihm gerne zurufen, dass sein Leben überhaupt nicht vergeblich war, wie er geglaubt hat, dass er mich und viele andere inspiriert hat, Mitmenschlichkeit zu zeigen, Ideen für ein besseres Miteinander zu entwickeln, dass er ganz vielen Menschen Mut gemacht und sich Respekt verdient hat, obwohl er ihn in seiner Bescheidenheit gar nicht verdient zu haben glaubte.
Wie unermesslich groß muss die Dunkelheit in ihm gewesen sein, wie umfassend seine Verzweiflung, wie quälend das Gefühl, zu nichts nutze zu sein, eine Belastung für andere. Ich kann es mir nicht einmal annähernd vorstellen. Meine Gedanken gelten seiner Familie, seinen Kindern – selbst sie konnten gegen die Dämonen, die ihn quälten, nicht ankommen.
Was bleibt? Der Vorsatz, achtsamer mit Mitmenschen umzugehen, ob virtuell oder persönlich. Und das hier. Dieser Satz wird uns immer an Johannes denken lassen und Ansporn sein:
„Das Netz ist ein guter Ort – wenn wir es gemeinsam dazu machen.“
Wir haben es nicht rechtzeitig geschafft, das Internet und die Welt zu einem Ort zu machen, an dem Du bleiben kannst, Johannes. Aber wir bleiben dran. Mach es gut da oben. Ich bin sicher, Du bist im Himmel gelandet.