Spätfolgen

Es ist nicht nur eine Tradition und guter Brauch in vielen Familien, sondern wissenschaftlich erwiesen: abendliches Vorlesen ist gut für die Kinder. Es fördert das Sprachverständnis, die Bindung an die Bezugsperson, die Phantasie – kurz, es ist durch nichts zu ersetzen. Und wer jemals gesehen hat, wie sich der leseunkundige Nachwuchs abends in seinem Bettchen in die Kissen kuschelt, während man mit leiser Stimme zum gefühlt vierundachtzigsten Mal die Geschichte von der Henne und dem Brot („… und ich erst recht nicht!“, mit Betonung auf dem ‚erst recht‘) vorliest, der weiß, dass dies alles stimmt.

In meiner Kindheit (bevor ich Lesen gelernt hatte und selber zur Leseratte wurde) gab es außer draußen spielen und dem abendlichen Vorlesen noch nicht viel kindliche Unterhaltung. Selbst Fernsehen war in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhundert, in denen ich aufwuchs, noch spärlich in Gebrauch und unmittelbar nach der Tageschau war bereits Sendeschluss. Oder so. Vorlesen gehörte auch in unserer Familie dazu, wenn ich mich auch nicht mehr genau erinnern kann, wer von der Familie eigentlich vorgelesen hat. Ich glaube, in den meisten Fällen war es mein großer Bruder, was die Auswahl der Lektüre erheblich beeinflusste: neben den bekannten Märchenbüchern waren es vor allem die frühen Pixi-Bücher und Micky-Maus-Hefte. Beides hatte erheblichen Einfluss auf mein Leben. Ich behaupte sogar, dass die Geschichten aus dem Micky-Maus-Heft, zumindest in der Ära der genialen Übersetzerin Dr. Erika Fuchs, einen nicht unbedeutenden Anteil an meiner Allgemeinbildung hatten.

Halt.

Eines fehlt in den vielen pädagogischen Anschauungen: was weiß man eigentlich über die Spätfolgen des Vorlesens? Ich meine jetzt nicht behandlungsbedürftige Psychosen aufgrund eines falsch übermittelten Familienbildes, oder jahrzehntelange Albträume infolge vorgelesener Gruselgeschichten, nein.

Ich behaupte, das Vorlesen im Kleinkindalter prägt auf eine Weise, die meiner Meinung nach noch völlig unerforscht ist. Ich selber bezeichne es als „Sitzungsnarkolepsie“.

Wir erinnern uns an die Ausgangssituation: Kind kuschelt sich in die Kissen, liegt bequem, fühlt sich warm und geborgen, während eine Person mit leiser Stimme spricht. Kind fällt irgendwann in Tiefschlaf und kann sich anschließend an nichts erinnern. Zumindest nicht daran, dass die Nachttischlampe ausgeknipst wurde, die Bezugsperson das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.

Die Spätfolge (oder aber frühkindliche Prägung) ist nun meiner Meinung nach, dass der Erwachsene in vergleichbaren Situationen umgehend in Tiefschlaf fällt oder zumindest sehr dagegen ankämpft. Schule, Konferenzen, Kirche, Bahn – überall, wo man mehr oder weniger gemütlich sitzt, monotone Geräusche auf einen einströmen oder eine Stimme sanft salbadert – die Möglichkeiten sind unendlich und jeden Tag erlebt man wenigstens eine davon.

Ich werde das Thema mal einreichen… :-)