Man weiß erst, was man kann, wenn man aufsteht und beschließt, es zu versuchen
(Dave Kovic)
Es ist fast dreißig Jahre her, dass ich beschloss, meinem Leben eine andere Wendung zu geben. Daraus wurde eine Drehung um hundertachtzig Grad – zum Besseren. Das Abendgymnasium Viersen, in dem ich auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgeholt habe, bat mich neulich bei einem Besuch um einen kleinen Rückblick, den ich sehr gerne verfasst habe. Jetzt auch hier: Über harte Arbeit, Mut, Durchhaltevermögen und Zufriedenheit.
Wie fing es an?
Wenn man, wie ich, ein Spätzünder ist und das normale Tages-Gymnasium im Teenageralter nicht als Chance, sondern als Last begreift, kann eine klassische Schulversager-Karriere folgen. Zweimal sitzengeblieben, kurz vor dem Abitur die Schule abgebrochen, immerhin mit einer mittleren Reife in der Tasche, so hieß damals die absolvierte 10. Klasse. Es folgte eine Ausbildung im kaufmännischen Beruf bei einem Wohnungsbau-Unternehmen. Ich wusste schon am zweiten Tag, dass das nichts für mich ist, biss mich aber durch die Ausbildung durch und arbeitete anschließend noch etliche Jahre in diesem Beruf. Man arrangiert sich halt. Und ein festes Einkommen ist auch nicht zu verachten.
Irgendwann kam aber die Erkenntnis, dass ich so nicht weitermachen wollte bis zur Rente. Ich schrieb damals einige Jahre nebenbei (unter meinem Geburtsnamen Abrahams) für eine kleine Lokalzeitung, musste mich mit den unterschiedlichsten Themen und Menschen auseinandersetzen (Stichworte: Pudelzuchtverein, neue Kirchenorgel, Fotoausstellung, Renovierung des Stadtbades, Karnevalssitzungen) und habe oft genug überraschende Erkenntnisse gewonnen. Das schien mir ein verlockender Beruf zu sein: Lokalredakteur. Menschen kennenlernen und über sie, und was sie tun, zu schreiben. Eine Überlegung kam zur anderen: am besten das Abitur nachholen, dann studieren, Journalistin werden. So kam die Anmeldung am Abendgymnasium zustande.
Der Alltag bzw. der Allabend im Abendgymnasium
Mein erster Schultag war im Februar 1986. Ein seltsames Gefühl, wieder die Schulbank zu drücken, daran kann ich mich gut erinnern. Aber etwas hatte sich geändert, und zwar von Grund auf: die Motivation. Alle, die dort saßen, hatten sich aus guten Gründen und nach reiflicher Überlegung entschieden, das Abitur nachzumachen und saßen in der Schule nicht die Zeit ab, sondern wollten wirklich etwas lernen. Entsprechend waren auch die Lehrer eingestellt: sie dozierten nicht, sondern arbeiteten mit uns zusammen, es war ein völlig anderes Verhältnis. Auf Augenhöhe und keine Machtstruktur.
Es folgten zweieinhalb Jahre harter Arbeit für mich: tagsüber in Vollzeit berufstätig, direkt nach Büroschluss in die Schule, von Montag bis Freitag, gegen 22.30 Uhr zu Hause. Freizeit fand bestenfalls am Wochenende statt, wenn ich nicht gerade mit Lernen beschäftigt war. Eines habe ich schnell begriffen: man darf nicht nur irgendwo weg wollen, sondern man muss ein klares Ziel vor Augen haben, zu dem man hin will, sonst ist ein solcher Kraftakt nur schwer zu schaffen.
Unsere Klassengemeinschaft war sehr bunt gewürfelt: zur Hälfte bestand sie aus den Schülern vom Nikolauskloster in Jüchen (Priesteranwärter, die das Abitur auf dem Weg zum Theologiestudium absolvieren wollen), die andere Hälfte waren Junge und Ältere, Singles, Mütter, Väter, Berufstätige aller Art. Nicht alle haben es geschafft, die Schulzeit durchzuziehen, und einige sind „unterwegs“ abgesprungen. Aber wir hatten eine nette Truppe beisammen, wir halfen uns, haben uns auch am Wochenende hin und wieder zum Lernen getroffen und uns immer wieder gegenseitig motiviert, wenn es den einen oder anderen „Durchhänger“ gab. Daneben hatten wir aber auch viel Spaß – und eine denkwürdige Klassenfahrt nach Rom.
Damals gab es nur drei Leistungskurse zur Auswahl: Deutsch, Biologie und Mathe. Mathematik war noch nie meins, also habe ich Deutsch und Bio belegt. Zu meinem Glück mit den beiden besten Lehrern meiner gesamten Schullaufbahn (und die war ja nicht gerade kurz, siehe oben). Diesen beiden bin ich zu großem Dank verpflichtet. Im Deutsch-Leistungskurs habe ich vom vernünftigen Strukturieren von Texten bis hin zur Analyse das komplette germanistische Rüstzeug gelernt, was mir später im Studium sehr nützlich war, und ich habe oft dankbar an diesen Unterricht zurückgedacht. Und der Biologielehrer stammte aus der Landwirtschaft und hatte eine unnachahmliche Art, komplizierte Zusammenhänge am Beispiel seiner eigenen Schweinezucht und Hühnerhaltung zu erklären. Genetik war auf diese Weise schnell mein Lieblingsgebiet, und ich steigerte meine Note in Biologie von einer anfänglichen Fünf auf eine zwei plus im Abi. Das große Interesse an Naturwissenschaften ist mir bis heute erhalten geblieben, und auch später im Studium habe ich mich bemüht, nach Möglichkeit interdisziplinär zu arbeiten, was ich wesentlich interessanter fand als mich in irgendein germanistisches Spezialgebiet zu vertiefen.
Der radikale Wechsel
Und dann hatte ich das Abitur tatsächlich in der Tasche, mit einem Schnitt von immerhin überdurchschnittlichen 2,4 – und stand vor einer schweren Entscheidung: sollte ich wirklich noch mit inzwischen knapp 30 ein Studium anfangen? Andererseits, wozu hatte ich sonst die Mühe auf mich genommen? Ich bin also ins kalte Wasser gesprungen, habe Job und Wohnung gekündigt, bin zu meinem damaligen Freund und heutigem Ehemann nach Neuss gezogen und schrieb mich zum Magisterstudiengang an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf ein, für Germanistik und Anglistik (ab 3. Semester Politikwissenschaft).
Mit dem Studium wurde für mich alles anders. Damals gab es das Bachelor- und Masterstudium noch nicht, mit mehr oder weniger vorgefertigten Bildungsverläufen. Ich konnte mich – im Rahmen der Studienordnung – weitestgehend frei entfalten. Es gab eine aufregende akademische Welt zu entdecken! Ich konnte mich kaum entscheiden zwischen all den interessanten Angeboten und versuchte, so viel wie möglich in meinem Stundenplan unterzubringen. Und verstand die jungen Studenten überhaupt nicht, die mit der Mimik der Mühseligen und Beladenen lustlos den ganzen Tag in der Caféteria saßen.
Es gab schwierige Zeiten, wo es bei meinem Mann beruflich nicht gut lief und das Geld trotz Bafög und Ferienjobs extrem knapp war. Als unser Sohn auf die Welt kam, wurde es noch komplizierter. Aber: ich hatte ja bereits auf dem Abendgymnasium gelernt, mich durchzubeißen, und zur feierlichen Übergabe der Magisterurkunde am Ende des Studiums waren Mann und Sohn mit dabei und ich weiß noch genau, wie ungeheuer stolz ich war, dass ich es geschafft hatte und der Kleine es schon miterleben konnte.
Das Absolvieren einer Prüfung ist nie das Ende, sondern immer ein Anfang. Mit Mitte dreißig noch irgendwo als Quereinsteiger bei einer Zeitung unterkommen? Ohne redaktionelle Ausbildung? Das konnte ich vergessen. Ein Volontariat wollte mir aber auch niemand geben, dafür war ich zu alt. In meinen früheren kaufmännischen Beruf konnte ich nicht zurück, dafür war ich – wegen des Studiums – inzwischen „überqualifiziert“. Ich fühlte mich zeitweise wie der Hauptmann von Köpenick. Ich hangelte mich von Aushilfsjob zu Aushilfsjob, schlug mich mit dem Arbeitsamt herum (weil ich in keine Schublade passte) und habe in dieser Zeit vor allem gelernt, Formulare und Bürokraten leidenschaftlich zu hassen.
Ein neuer Anfang und noch nicht das Ende
Ich hatte riesiges Glück, dass der Zufall mich eines Tages in das Büro des damaligen Fernsehchefs beim WDR in Köln spülte. Er selbst hatte keinen Job für mich, vermittelte mich aber an eine Kollegin, und die wiederum an einen anderen Kollegen, der offenbar von meinem Lebenslauf beeindruckt war – und plötzlich war ich freie Mitarbeiterin bei einem Fernsehsender. Und blieb es einige Jahre, bis ich schließlich auf eine feste Stelle rücken konnte.
Auf der bin ich heute noch, arbeite an den Internetseiten für ein tägliches Verbrauchermagazin und einige andere Fernsehsendungen, die in unserer Redaktion produziert werden. Ich mache zwar keine Lokalpresse mehr, was ja mein ursprünglicher Plan war, aber habe trotzdem jeden Tag mit neuen, interessanten Menschen und aktuellen Themen und einer solchen Fülle an Informationen zu tun, dass es oft genug eine Herausforderung ist, den Überblick zu behalten.
Fazit
Heute gibt es viele weitere Möglichkeiten, das Fachabitur oder das Abitur nachzuholen, tagsüber, mit Bafög-Unterstützung, online, im Baukastensystem. Und die Schulwoche am Abendgymnasium ist auch nur noch von montags bis donnerstags. Mein Abiturjahrgang war wohl einer der letzten, der am Abendgymnasium noch auf die „klassische“ Weise bis zum Abi gelernt hat.
Egal, wie schwer es zeitweise war – ich habe die Entscheidung, meinen früheren frustrierenden Job an den Nagel zu hängen und mein Leben umzukrempeln, nie bereut. Nie. Kein einziges Mal. Ich sitze zwar wieder täglich in einem Büro – aber wie anders ist das alles im Vergleich zu früher. Ganz, ganz anders.