Wer schon einmal an der Nordsee eine Wattwanderung mitgemacht hat, weiß, wie sich das anfühlt. Ich kann mich jedenfalls dafür ehrlich begeistern, und inzwischen vergeht kein Aufenthalt an der Nordsee mehr ohne Wattwanderung. Einmal bin ich sogar vom Festland bis zur Insel Baltrum gewandert – nur mit erfahrenem Wattführer selbstverständlich. Alles andere ist bodenloser Leichtsinn. Und natürlich mussten meine Erfahrungen auch in „Spätsommer auf Borkum“ einfließen:
Anne hatte viel über die Insel gelesen, versucht, sich vorzubereiten, aber das hier konnte kein Foto, kein Buch und kein Video vermitteln: die Luft, die wie Seide über ihre nackten Arme und Beine strich, den Duft der vielen Kräuter, den Blick in die Weite, und den weichen Wattboden unter den Füßen. Anne blieb ein bisschen zurück, als die Gruppe mit Marten ein Stück weiterging, und sah stattdessen aufs Meer hinaus. Vielmehr auf das, was in ein paar Stunden wieder Meer sein würde. Sie konnte in der Ferne nicht genau ausmachen, wo das Wasser anfing. Die feuchte Wattfläche glitzerte in der Sonne, und das Blau des Himmels mischte sich am Horizont mit dem bräunlich schimmernden feuchten Watt zu einer undefinierbaren Farbe im blassen Dunst. Alle Konturen verschwammen, auch die eines kleinen Segelboots, das ganz weit draußen dümpelte. Anne schloss für einen Moment die Augen. Von den Salzwiesen wehte immer noch der würzige Duft des Wermuts herüber, und weit oben kreisten irgendwo Möwen und schienen sich mit ihren Schreien zu unterhalten. Auch andere Vogelstimmen hörte sie, die sie nicht kannte. Noch nicht.
Anne öffnete die Augen wieder und sah auf ihre sandverkrusteten Füße herunter. Was für ein Genuss, wieder einmal barfuß zu gehen. Das Watt war ideal für müde Städterfüße, fest genug, nicht einzusinken, aber weich genug, um die Füße bei jedem Schritt zu massieren. Anne wackelte mit den Zehen. Erstaunlich, diese Fülle von Leben nur wenige Zentimeter unter ihren Fußsohlen. Vermutlich tummelten sich dort tausende von diesen Wattwürmern und Herzmuscheln, die seit Millionen von Jahren im immer gleichen Rhythmus von Werden und Vergehen die Natur im Gleichgewicht hielten. Fressen und gefressen werden, dachte Anne mit Blick auf eine hungrige Möwe, die mit dem Schnabel im Sand gestochert hatte und nun misstrauisch zu ihr herüber sah.
Anne bekam eine ungefähre Ahnung, wie das Leben auf der Insel sein könnte. Im Einklang mit der Natur, aber auch im Kampf gegen sie, wenn es um das eigene Überleben ging. Sturmfluten waren selten, aber wenn es sie gab, dann wüteten sie zerstörerisch.