Es gibt viele Bilder, die sich einprägen, Bilder, die man nie vergisst und noch Jahre später genau weiß, was man zu dem Zeitpunkt getan hat, als man sie sah. Es gibt Bilder, die das ganze Leben, das danach kommt, beeinflussen und entscheidend ändern können.
Weihnachten 1989. Nach einem ohnehin schon völlig verrückten und aufregenden Jahr, in dem sich nicht nur die deutsche Geschichte für immer verändert hat, kommen neue, beunruhigende Nachrichten aus Rumänien. Es rumort, das Volk erhebt sich endlich gegen den Diktator Ceaușescu. Er steht auf dem Balkon des Palastes, will eine Rede halten und wird vom Volk niedergebrüllt. Er sieht fassungslos in die Menge, wird von Sicherheitsleuten nach innen gebracht und flieht in einem Hubschrauber. Zwei Tage später hat man ihn aufgespürt, verhaftet, in einem Schnellgerichtsverfahren zum Tode verurteilt und erschossen.
In den Straßen Bukarests kämpfen die Menschen währenddessen gegen die Heckenschützen der Securitate (rumänischer Geheimdienst), die noch nicht aufgegeben hat. Die Bevölkerung hat bestenfalls Schrotflinten aufzubieten gegen die hochgerüsteten Kämpfer von Ceaușescus Eliteeinheiten, manche nicht einmal das. Mit Schaufeln, Knüppeln, Fäusten gegen Maschinengewehre.
Und da ist ein Bild: Mitten zwischen den Kampflinien und den Kugeln hindurch läuft gebückt ein Mann, der ein Backblech balanciert. Ein Backblech mit frischgebackenen Brötchen. Er rennt quer über eine Straße, Kugeln pfeifen über seinem Kopf, er bringt sich hinter einer Mauer in Sicherheit. Er riskiert sein Leben, um anderen, die für die Freiheit beinahe mit bloßen Händen kämpfen und in Verstecken und hinter Barrikaden ausharren, etwas zu essen zu bringen.
Ich war nicht unmittelbar dabei. Ich habe das alles „nur“ am Fernseher verfolgt. Was nicht bedeutet, dass sich Bilder weniger einprägen.
Was ich damit sagen will? Menschen riskieren ihr Leben, um für sich selbst und alle anderen ihre Volkes etwas zu erkämpfen, was für meine Generation immer selbstverständlich war und ist: das Recht, ihre Regierung selbst zu bestimmen. Das Recht auf freie, demokratische und geheime Wahlen. Mir muss niemand erzählen, wie gut wir es in diesem unserem Lande vergleichsweise haben. Mich muss auch niemand zur Wahlurne prügeln. Zur Wahl zu gehen ist nicht nur ein Recht, das ich wahrnehme – es ist ein Privileg, das ich zu schätzen weiß.
Ich werde seit Tagen, um nicht zu sagen, seit Wochen pausenlos daran erinnert, wie wichtig es ist, zur Wahl zu gehen. Auf Facebook, auf Twitter, im Bekannten- und Kollegenkreis. Und es fängt an, mich zu nerven. Ihr rennt offene Türen ein. Vielleicht brauchen die Menschen, die mich in den letzten Tagen ständig erinnern, einfach mehr Bilder im Kopf. Bilder von Menschen, die noch wissen, wirklich wissen, was Grundrechte sind.