Die langjährige Geschichte zwischen mir und Spanien ist schnell erzählt. Ich war nämlich nie da. Nicht bis zum 23.06.2011. Auch nicht auf Mallorca oder in Lloret de Mar oder in Barcelona, als vermutlich einzige Einwohnerin Deutschlands. Die spanische Geschichte und Kultur waren mir fremd – höchste Zeit, das zu ändern.
Tatsache ist, ich bin genau 52, als ich zum ersten Mal ein Flugzeug der Iberia besteige, um auf die iberische Halbinsel zu fliegen. Anlass ist ein iberischer Sänger, genauer: ein Bariton, noch genauer: Carlos Marín von der Gruppe „Il Divo“, der vom 23.06. bis 26.06.2011 einige Solo-Konzerte in seiner Heimatstadt Madrid gibt.
Meine Eindrücke von Madrid und den Konzerten habe ich per iPhone und Internetcafé jeweils brühwarm der Heimat mitgeteilt, immer zeitnah und unter dem unmittelbaren Eindruck der jeweiligen Erlebnisse.
Mit nachträglichen Kommentaren und Fotos und behutsamer Korrektur der entgleisten Rechtschreibung ist daraus eine Art Madrid-Tagebuch entstanden.
Beginn der Reise: Donnerstag, 23.06.2011
Es ging alles Hals über Kopf am ersten Abend. Geplante Ankunft am Flughafen Madrid-Barajas: 14.40 Uhr. Um 18.00 Uhr mit meinen holländischen Freunden Anny und Gerd auf der Calle Gran Via verabredet zum Essen, 21.00 Uhr das Konzert. Ich hatte mir ausgerechnet, dass ich zwischen 15.30 Uhr und 16.00 Uhr im Hotel ankommen müsste, wenn… Ja, wenn das Flugzeug pünktlich gelandet wäre. Wenn ich das Gepäck schnell bekommen hätte… Um 17.30 Uhr war ich dann endlich auf meinem Zimmer. Schnell Anny eine SMS schicken, dass ich es nicht bis 18.00 Uhr schaffe, auspacken, umziehen, Eintrittskarte einstecken und los.
Mein Zimmer im Hostal Gran Via 63 (schräg gegenüber vom Teatro Compac Gran Via) ist winzig, gerade dass mal das Bett und ein Nachttisch darin Platz haben. Auch das Bad ist eng, aber für einen alleine ist es groß genug, alles ist sauber und ordentlich, und ich werde ohnehin nur zum Schlafen hier sein. Von Campingplatz bis Steigenberger habe ich schon alles mögliche erlebt und beschließe nach einem Rundblick: reicht voll und ganz. Stutzig macht mich nur der riesige Ventilator in der Ecke, aber den werde ich im Laufe der nächsten Tage noch zu schätzen lernen.
Das Essen war prima, wenn ich auch im ersten Moment etwas verwirrt war von der Speisenfolge. „Primeros Platos“, „Segundos Platos“, „Pan“, „Bebida“, „Postre“ o „Café“ – und das alles für 8 Euro?
Anny und Gerd klären mich auf: man sucht sich von den oberen und unteren Gerichten jeweils eins aus. Dazu Entweder Brot, Getränk, Nachtisch oder Kaffee. Alles weitere wird dann extra berechnet.
Ungefähr eine Stunde vor dem ersten Konzert treffen wir am „Teatro Compac Gran Via“ ein. Es gibt noch ein wenig Verwirrung um die Tickets und vor allem hapert es bei der Verständigung mit der Dame an der Kasse, aber am Schluss kommen alle hinein, die hinein wollen. Viele Il Divo-Fans sind da, viele spanische Freunde, Carmen, Irene, Heather – die meisten Namen habe ich, so fürchte ich, schon wieder vergessen…
Tina ist auch da und spielt Manager und Übersetzer in einer Person, macht alle miteinander bekannt, stellt uns Carlos‘ Familie vor und sorgt dafür, dass alle ins Gespräch kommen.
Nachricht nach Hause am nächsten Morgen:
„Es war ein fantastischer Abend! Dass Carlos ein grossartiger Saenger ist, wusste ich ja schon vorher, aber hier, bei seinem „Heimspiel“, kann er sich von Il Divo loesen umd sich ganz anders geben. Als Persoenlichkeit ist er sehr viel komplexer als nur als „Latin Lover“. Er war wohl gestern abend sehr nervoes, und da gab tatsaechlich auch mal ein paar kleine Fehlerchen, die aber kaum jemand bemerkt hat. Im uebrigen ist hier alles total entspannt und unaufgeregt, Carlos‘ Familie ist supernett. Dies als ganz kurzer Zwischenbericht, ist am iPhone ziemlich muehsam. Ich versuche spaeter ein Internetcafe zu finden.“
Es war wirklich eine fantastische Show, die er da im Alleingang auf die Beine gestellt hat. Fast zwei Stunden Soloprogramm auf der Bühne, stimmlich fast ständig am Anschlag mit lauter anspruchsvollen Nummern, nur unterbrochen von drei Songs, die Geraldine alias Innocence gesungen hat – großartig. Monatelang haben sie daran gearbeitet, hat er später erzählt, und dass es ein langgehegter Wunsch und Traum war, einen solchen Abend auf die Bühne zu bringen.
Und Orchester und Band und Tänzerinnen und Tänzer, Bühnendeko, Videoshow… Die Auswahl der Songs haargenau nach meinem Geschmack, aber einiges wusste ich ja vorher schon. Einen Bogen von Las Vegas über Musical-Highlights bis hin zur Zugabe „Granada“ – ich behaupte, dass im Laufe des Abend alle, wirklich alle im Saal nur so dahingeschmolzen sind. Und nicht wegen der Temperaturen draußen… 😉
Ach ja, ein Gang ins Publikum war auch dabei… 😉
Freitag, 24.06.2011
Für den zweiten Tag in Madrid (den ersten „richtigen“), hatte ich mir einen gemütlichen Stadtrundgang vorgenommen und bin am Morgen einfach losmarschiert, nur ganz grob am Stadtplan orientiert. Und eigentlich stolpert man dann schon fast über die wichtigsten Sehenswürdigkeiten:
Stationen: Calle Gran Via, Fuente de Cibeles, Paseo del Prado, Fuenet de Neptuno, Meseo Nacional Prado, Iglesia de los Jerónimos, Parque de el Retiro, Calle Claudio Moyano, Calle Atocha, Plaza Mayor, Calle Mayor, Catedral de la Almudena, Palacio Real, Teatro Real, Plaza de España, Calle Gran Via.
Auf dem Stadtplan kann man sehen, dass ich einen großen Kreis gewandert bin, links oben, wo das Kreuzchen ist (Hostel Gran Via 63) ging es los. Und nach dem Stadtrundgang war wieder eine Meldung nach Hause fällig:
„Freitag, 24. Juni 2011, 15:52
Nachdem ich jetzt stundenlang bei 33 Grad durch Madrid getigert bin, brauche ich dringend eine Siesta und Dusche – weiss nur nicht, in welcher Reihenfolge. Madrid ist eine tolle Stadt, ich bin so froh, dass ich hierher geflogen bin! Ehrlich mal, Klamotten an, bei der Hitze, und dann noch Haare foenen geht GAR nicht!“
Samstag, 25. Juni 2011
Ich war zunächst unschlüssig, was ich am Samstag unternehmen sollte. Ein Programmpunkt, den ich in Madrid auf jeden Fall abhaken wollte, war der Prado. Nur, wann? Herrlichster Sonnenschein, und ich soll ins Museum? Schließlich habe ich mir überlegt, dass ich mich wahrscheinlich jahrelang ärgern würde, zwar in Madrid, aber NICHT im Prado gewesen zu sein, also bin ich losgezogen. Wo der Prado ist, wusste ich ja vom Stadtrundgang am Tag vorher, diesmal habe ich aber ein Stückchen Laufweg mit der U-Bahn abgekürzt.
Man hatte mich gewarnt, vor dem Eingang müsste man stundenlang anstehen, das kann ich nicht bestätigen. Vielleicht war ich aber auch früh genug unterwegs, ich habe allenfalls ein paar Minuten am Kartenverkauf warten müssen. Der Eingang zum Prado ist dann die Ecke herum, und hier bewährte sich mein in Jahren antrainiertes Museumsbesuch-Verhaltensmuster:
Erstens: Tasche abgeben. Bestenfalls Handy (stumm geschaltet) und Geldbörse in die Hosentasche stecken. Unbeschwert Bilder gucken.
Zweitens: einen Museumsplan besorgen.
Drittens: Mit Plan erst mal hinsetzen. Um Plan zu studieren. Ich weiß aus Erfahrung, dass es überhaupt keinen Sinn macht, in Museen der Größenordnung Prado, National Gallery oder Louvre einfach drauflos zu marschieren. Also erst mal auf dem Plan nachsehen, wo was ausgestellt ist und sich die wichtigsten Kunstwerke oder Künstler aussuchen, die man auf jeden Fall sehen will. Alles andere dann nur noch, wenn noch Zeit ist.
Mit Blick auf den Plan und leisem Bedauern, dass ich wieder einmal nicht alles würde sehen können, beschloss ich, mich auf die spanischen Maler zu konzentrieren, über die ich viel zu wenig weiß. Die wichtigsten – Velázquez mit seinen Herrscherportraits, Goya, El Greco – kennt man, aber was gibt es noch zu entdecken?
Um es kurz zu machen: die spanische Malerei hat mich auf Anhieb begeistert! Die Motive (vor allem biblische Themen, wie in anderen europäischen Ländern zu gleicher Zeit auch) sind natürlich immer recht ähnlich, aber die Art zu malen über die Jahrhunderte eine andere als bei uns und bestimmt durch die Umgebung. Eine sehr naturgetreue Darstellung, anders als diese verklärten und geschönten flämischen Maler, starke Farb- und Hell/Dunkel-Kontraste, mit einem überaus scharfen Blick für die menschliche Natur und den Mut, sie schonungslos darzustellen.
Aus dem 17. Jahrhundet hat mich vor allem Francisco de Zurbarán sehr angesprochen. Das ist so ein ganz typisches Beispiel für diese düsteren, kontrastreichen Bilder:
Den Namen Francisco Pradilla Ortiz hatte ich vorher auch noch nie gehört, war aber ungeheuer beeindruckt von der Schärfe und Tiefe besonders dieses Bildes „Johanna die Wahnsinnige begleitet den Sarg ihres Mannes“:
Leider, leider ist es hier viel zu klein. Im Original von einer ungeheuren Wucht, und nachdem es 340 x 500 cm groß ist, kommt man sich vor, als würde man mitten in dieser trostlosen Winterlandschaft irgendwo in Spanien stehen. Es mag mir keiner glauben, aber mir wirklich kalt geworden, als ich vor dem Bild stand.
Hier haben wir Johanna die Wahnsinnige übrigens noch einmal auf einem Gemälde von Lorenzo Vallés (ich hab sie im Museum mehrere Male gesehen, auf Bildern verschiedenster Epochen, sie muss zu ihrer Zeit eine sehr eindrucksvolle Persönlichkeit gewesen sein). Hier hat sie ihren heißgeliebten verstorbenen Mann wieder ausbuddeln lassen und glaubt, dass das Leben in ihn zurückkehren wird:
Nicht alle Bilder in der spanischen Malerei sind so düster und trostlos, viele strahlen eine ungeheure Lebensfreude aus, sind witzig bis zum Sarkasmus, aber immer schonungslos. Und das scheint mir auch ein wenig die spanische Mentalität widerzuspiegeln, von Kontrasten bestimmt: schwarz-weiß, hell-dunkel, bunt-farblos, Kontraste ohne Schattierungen dazwischen, und die Lebensfreude wird durch das Bewusstsein bestimmt, dass es auch die andere, die düstere Seite im Menschen gibt. Nur, hier wird sie nicht verdrängt, sondern als Teil des Lebens akzeptiert. Vielleicht ist man hier gerade deswegen viel entspannter als bei uns.
Und als wäre der Prado noch nicht Kulturschock genug gewesen, bin ich noch ins Museo Reina Sophia weitergewandert, und zwar aus einem einzigen Grund:
Dieses Schreckensbild des spanischen Bürgerkrieges (dessen Entstehung außerdem ausführlich mit Fotos dokumentiert ist) sollte, nein, MUSS man gesehen haben. Und wenn man dann noch in den Medien im Museum und auch in Filmausschnitten sieht, wie man sich nach Jahren des gewollten und kollektiven Vergessens jetzt auch in Spanien mit dem Bürgerkrieg und seinen Folgen auseinandersetzt, bekommt man plötzlich zu Spanien und zur europäischen Geschichte wieder einen ganz anderen Bezug. Und wenn man dann noch überlegt, dass vielleicht auch Carlos‘ Eltern vor der Franco-Diktatur, die bis zu Francos Tod 1975 andauerte, nach Deutschland geflüchtet sind, so schließt sich der Kreis auf ganz seltsame Art wieder.
Auch im Stadtbild dieser scharfe Kontrast der Farben und Helligkeit und Schatten:
Am späten Nachmittag wieder im Hotel habe ich gleich wieder eine Nachricht nach Hause geschickt:
„Samstag, 25. Juni 2011, 17:27 Ich bin platt. Heiss ist es hier… Habe heut Museen abgeklappert und jetzt einen ausgewachsenen Kulturschock. Einfach grossartig, was hier geboten wird. Hab mich im Prado auf die spanischen Maler konzentriert und so manche Entdeckung gemacht. Bei uns kennt man ja mal gerade die beruehmtesten… Und jedes zweite Bild war das Portrait von irgendeinem Carlos, der I., der II., der III. usw. Da guck ich mir lieber den richtigen an… DEN Carlos!Entschuldigt uebrigens, dass ich hier lauter Monologe von mir gebe, aber das Surfen und Seiten schauen ist mit dem iPhone ziemlich muehselig, daher beschraenke ich mich auf kurze Berichte.“
Und für den Abend war noch Konzert mit Carlos Marín geplant – mit einem anschließenden Umtrunk, und einem enthusiastischen nächtlichen Bericht nach Hause:
„Sonntag, 26. Juni 2011, 01:23 Nochmal eben einen naechtlichen Zwischenbericht. Perfekter haette es kaum laufen koennen, bin TOTAL happy. Hab wieder viele tolle Fotos gemacht, viele großartige Menschen kennengelernt, werde ganz stolz von Carlos‘ Mama herumgereicht, weil ich extra wegen ihrem Sohn aus Deutschland angereist bin, es gab hugs und kisses, viele Fotos, und und und… Hach! Gute Nacht!!“
Sonntag, 26.06.2011
Für den Sonntag hatte ich mir vorgenommen, den berühmten Flohmarkt „El Rastro“ zu besuchen, der jeden Sonntag rund um den Plaza de Cascorro stattfindet. Hier bekommt man alles, was man sich nur vorstellen kann. Es gehört in Madrid zum Sonntagsritual, den Rastro zu besuchen, denn schon am Vormittag waren die Straßen rund um den Plaza de Cascorro dicht gefüllt. In den Altstadtgassen gibt es auch viele kleine Geschäfte, Antiquitätenläden, Haushaltswaren, Kleidung, Möbel, Second-Hand-Läden, und alle haben geöffnet. Auf dem Flohmarkt selber wird vor allem Kleidung angeboten, aber auch Schmuck, Sportbekleidung, Lederwaren und Tischwäsche, und man kann echte Schnäppchen machen. Zwei Hosen hab ich mir gekauft, zusammen für 16 Euro – da kann man nicht meckern.
Die Straßen sind auch hier, wie fast überall in der Innenstadt, etwas hügelig, und wenn man den Fehler macht, in der Mittagshitze erst einmal bergab zu gehen – muss man sehen, wie man hinterher wieder heraufkommt. Ich habe mir aber viel Zeit genommen, immer wieder Mineralwasser nachgeschüttet und mich manchmal einfach nur eine Weile hingesetzt, um das bunte Treiben zu beobachten.
Vom Rastro aus bummelte ich noch ein wenig weiter, wieder in Richtung Kathedrale und Königspalast, es war inzwischen Nachmittag.
Touristen fotografieren sich immer gegenseitig, hab ich festgestellt, und hatte mich diesem Brauch nicht angeschlossen. Das hier ist die einzige Ausnahme. Meine Foto-Partnerin mit gegenseitigem Ablichten kam in diesem Falle aus Japan.
Gleich hinter dem Königspalast liegen die Sabatini-Gärten, eine sehr gepflegte und sehenswerte Grünanlage, die hab ich mir auf dem Weg zum Hotel dann auch noch angesehen:
Den Rest des Abends habe ich in bewährter Weise als Botschaft nach Hause festgehalten:
„Sonntag, 26. Juni 2011, 22:41 Mein iPhone hat den Hitzschlag und ich sitze im Internetcafe an der Calle Gran Via. Habe mich eben noch von Carlos verabschiedet, denn morgen geht es ja für mich wieder nach Hause… Bussi an alle, vielleicht kriege ich mein iPhone noch ans Laufen, ansonsten melde ich mich morgen wieder! Buenas noches y besos para todas!“
Als ich aus dem Internetcafé kam, bummelte ich langsam die Calle Gran Via wieder Richtung Hotel cbd products und warf zufällig einen Blick auf die andere Straßenseite. Dort standen nicht nur einige Leitern vor dem Teatro Compac Gran Via, sondern ein ganzer Kran und daneben ein Pritschenwagen. Ich sah auf die Uhr, es war knapp nach Mitternacht. Ein Mann auf einer Leiter riss gerade das Plakat vom Carlos-Konzert auf der rechten Seite des Eingangs ab. „Oh nein!“ sagte ich unwillkürlich, als er es einfach auf den Boden warf.
Ich stürzte zur nächsten Ampel ein Stückchen hinter dem Teatro (nebenbei bemerkt, sind Fußgängerampeln wirklich die sicherste Art und Weise, die Straßen von Madrid zu überqueren) und rannte auf der anderen Seite wieder zurück. Inzwischen lag das erste Plakat auf der Ladefläche des Pritschenwagens, ein weiteres Plakat auf dem Boden, und ein Arbeiter auf dem Kran schickte sich gerade an, das riesige Plakat über dem Eingang (geschätzte sechs, sieben Meter breit) zu entfernen.
Ich sprach einen der Arbeiter an, und seinem Gesicht nach zu urteilen, muss ich ziemlich viel unverständliches Zeug geredet haben. Er sah mich ratlos an und kratzte sich am Kopf. Ich zeigte auf das Plakat, das am Boden lag, dann auf die Wand, die jetzt kahl war, dann auf mich, dann auf das Plakat auf dem Wagen, und hab das Ganze noch ein paarmal wiederholt. Dann hellte sich seine Miene auf, er hatte begriffen. Er ging zum Lieferwagen, nahm eine große Rolle herunter, ließ sie aufrollen, und das war das erste Plakat, genau das, was ich haben wollte. Ich machte ein fragendes Gesicht, und deutete auf das Plakat und wieder auf mich, ob ich es haben dürfte. „Si“, lächelte er, drückte mir ein Ende des Plakats in die Hand und gemeinsam rollten wir es schön fest wieder auf, dann gab er es mir mit einem Kopfnicken. Ich hatte einen Kloß im Hals. Was für ein Souvenir! Ein Originalplakat der Carlos-Konzerte. Nicht nur aus Papier, sondern aus schwerer Leinwand. Und wie nett von diesem Menschen, mir zu helfen. „Muchas gracias“, kriegte ich noch zustande, küsste diesen göttlichsten aller Madrider Arbeiter auf die Wange und verschwand blitzschnell mit meinem Raub, bevor er es sich womöglich anders überlegte.
Und diese Rolle stand nun in der Zimmerecke im Hostal Gran Via 63: ein großes Plakat, sorgfältig zusammengerollt, und ich wollte es unbedingt mit nach Hause nehmen. Ich würde es irgendwie verpacken und als zusätzliches Gepäckstück deklarieren müssen. Gab es hier im Kaufhaus vielleicht große Papprollen? Groß genug für dieses Riesenteil? An der schmalen Seite aufgerollt maß es schon 1,50 Meter. Und wie dieses Ding ins Flugzeug bekommen? Es würde Übergepäck kosten, vielleicht zehn, fünfzehn Euro. Egal, das sollte es mir wert sein.
Montag, 27.06.2011 – Abreisetag
Als ich aufwachte, war mein erster Gedanke: Heute muss ich nach Hause. MUSS. Oh nein. Ich hatte mich seit Jahren nirgends mehr so wohl gefühlt wie in Madrid, ich vertrug die Hitze gut, hatte nicht ein einziges meiner üblichen Wehwehchen – nein, ich wollte nicht heim. Ob mit oder ohne Carlos: ich hatte Madrid ins Herz geschlossen, unwiderruflich. Immerhin ging der Flieger erst abends um viertel vor acht, ich konnte den Tag also noch nutzen.
Es hielt mich nicht mehr im Bett, ich zog mich schnell an und ging los. Das Zimmer musste bis um 12 Uhr geräumt werden, ich durfte das Gepäck aber noch bis nachmittags im Hostal lassen. Zeit genug, noch ein passendes Behältnis für mein Monster-Poster zu besorgen.
Erste Station: Internetcafé: „Montag, 27. Juni 2011, 09:58
Hola! Ich sitze wieder im Internetcafe, mein iPhone ist dem Hitzschlag erlegen. Die Ueberdosis Madrid ist uebrigens noch steigerungsfaehig. Ich bin gestern abend hier aus dem Café raus und noch ein bisschen herumgebummelt. Und auf dem Rueckweg zum Hotel (das schraeg gegenueber vom Teatro Compac Gran Via ist) hab ich gesehen, dass sie dabei waren, die Plakate am Teatro auszuwechseln, Carlos abmontieren und die Plakate fuer die nachste Show aufhaengen. Und die wollten Carlos WEGWERFEN!!!! Sowas kann ich natuerlich nicht zulassen.
Ich komme also (hoffentlich) mit einem Originalplakat von der Show nach Hause, d.h., falls es mir gelingt, das Ding irgendwie zu verpacken und mit ins Flugzeug zu kriegen. Es ist naemlich ungefahr 1,50 x 2,00 Meter gross und aus schwerem Textil… Ansonsten gehe ich heute noch in den Retiro Park, den hab ich bislang nur gestreift, dann am Nachmittag zum Flughafen und um 22.15 Uhr soll der Flieger in Duesseldorf landen. Bis ich dann zu Hause bin… Bussi an alle und bis nachher! Morgen hab ich noch Urlaub, gut, dass ich mir den Tag auch noch freigenommen habe… „
Und damit zog ich los, immer die Uhr im Auge, denn ich musste ja mein Zimmer rechtzeitig räumen. Zusammengepackt war schon alles. Meine Suche nach einer passenden Verpackung für mein Souvenir hatte ich später in einer Nachricht nach Hause wie folgt beschrieben:
„Montag, 27. Juni 2011, 16:23 Hahaha, das war total lustig. Ich war im Kaufhaus und hab versucht, eine grosse Papprolle fuer das Plakat zu bekommen. Nun versucht mal, einer spanischen Kaufhausangestellten, die kein Wort englisch kann, zu erklaeren „ich-brauche-bitte-eine-grosse-Papprolle-in-der-das-Plakat-von-Carlos-Platz-hat“. Ich habs dann mit Zeichensprache versucht, hab mir einen Briefumschlag aus dem Regal genommen und eine Rolle Geschenkpapier, hab auf den Umschlag gezeigt, das Wort „parqueta“ fiel mir zum Glueck noch ein, und dann auf die Rolle und hab dann mit Zeichensprache klargemacht, dass ich so etwas in GANZ GROSS suche. Hat geklappt! Tubo heisst das! Ganz einfach! Ich hab zwar das Plakat noch einmal laengs knicken muessen, aber es ist verstaut. Ich bin nur gespannt, was die gleich am Flughafen dazu sagen werden…“
Plakat verstaut, Reisetasche und Papprolle an der Rezeption des Hostal abgegeben und dann: Retiro Park!
Mit der Metro konnte ich gleich durchfahren, und wenn man aus der Metro-Station „Retiro“ kommt, steht man praktisch schon mitten im Park.
Der Reiseführer verriet, dass man am besten erst einmal die Hauptachse des Parks entlangwandert und dann nach Gusto rechts und links abschweift. Bis ich gegenüber dem Monumento Alfonso XII und dem wunderschönen See angekommen war, verging schon mindestens eine halbe Stunde, es gab so viel zu sehen und zu fotografieren. Außerdem, nicht vergessen, es hatte ja inzwischen schon wieder weit über 30 Grad. Ich setzte mich auf eine Bank gegenüber dem See und sah den Ruderbooten zu. Schräg vor mir saß ein Gitarrenspieler, und der war auch wieder typisch für etwas, das ich in Madrid liebgewonnen hatte: an jeder Ecke gibt es Musik, und die meisten Straßenmusiker sind wirklich richtig gut. Vor allem diese leichten spanischen Gitarrenklänge begleiteten mich überall:
Überall rund um den See sind kleine Cafés und Restaurationsbetriebe, und viele nutzen die Chance, bei herrlichem Ausblick im Schatten unter Bäumen zu sitzen. Die Stimmung ist absolut relaxed. Der Park, der ehemalige königliche Park, ist der große Garten der Madrilenen, ein riesiges Areal, wo jeder ein ruhiges Plätzchen im Schatten, oder im Winter auch in der wärmenden Sonne finden kann. Der Baumbestand ist uralt, an jeder Wegkreuzung gibt es etwas anderes zu sehen, Brunnen, Denkmäler, kleine Kunstwerke. Menschen flanieren, führen Hunde aus, fotografieren, joggen, liegen einfach nur im Gras unter einem der uralten Bäume – Entspannung pur.
Im Inneren des Parks gibt es gleich zwei sehr ungewöhnliche Gebäude, die man schon aufgrund der Architektur genauer ansehen sollte. Das eine ist der Palacio de Velázquez:
und das andere der Palacio de Cristal.
In beiden Gebäuden finden Kunstausstellungen und Kunstprojekte statt, im Kristallpalast gab es zum Beispiel, als ich drin war, eine akustische Installation mit künstlich erzeugten Tönen, was im Gesamteindruck mit der Durchsichtigkeit ringsum ein ganz seltsames, fremdes Gefühl auslöste. So, als sei man auf einem anderen Planeten gelandet.
Es nützte nichts, am Nachmittag musste ich mich wieder in Richtung Hostal auf den Weg machen, um mein Gepäck abzuholen und zum Flughafen zu fahren. Wieder brauchte ich Hilfe, weil ich an der Metro-Sation auf dem falschen Bahnsteig war, und diesmal waren es zwei freundliche Arbeiter, denen ich den Metro-Plan zeigte und sagte, dass ich mit der „linea ocho“ zum „aeroporto“ müsste, die es sich nicht nehmen ließen, mir tatkräftig zu helfen. Einer trug mir sogar meine Tasche über die zahlreichen kleine Treppchen von einem Bahnsteig zum anderen und gab nicht eher Ruhe, bis ich am richtigen Gleis stand und genau wusste, in welche Linie ich einsteigen müsste. Ach, dieser Charme, diese Hilfsbereitschaft, die menschliche Wärme und Herzlichkeit – das vermisse ich am meisten.
Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich musste ja mein XXL-Souvenir noch sicher ins Flugzeug bringen. Am Flughafen Madrid wollte man mir nämlich für das zweite „Gepäckstück“ (die Papprolle) 60 Euro abknöpfen! Ich hab dem Mann beim Einchecken klargemacht, dass der Preis ja wohl eine Unverschämtheit sei und bin zum Security-Check gegangen, hab denen erklärt, das sei ein Plakat und Andenken, und so schönes Konzert und hach! mir fehlt Madrid jetzt schon *heulheul* – und ich durfte es als Handgepäck mit ins Flugzeug nehmen. Kostenlos, versteht sich. 😆
Und so endete mein Fünf-Tage-Trip nach Madrid, man erinnere sich, meine erste Reise nach Spanien überhaupt. Und auch davon möchte ich mehr, mehr, mehr. Wer weiß, vielleicht im nächsten Jahr?
ENDE