Der Himmel über Berlin

„Sei bitte nicht tot.
Würdest Du das für mich tun?
Hör einfach damit auf.“

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Es ist nicht so wie im Fernsehen. Es ist nicht so, dass Du mich beobachtest, während ich an Deinem Grab stehe. Es ist nicht so, dass Du irgendwann plötzlich wieder vor mir stehen wirst. Ich habe eine ganze Zeitlang gedacht, wenn ich es nur für unwahrscheinlich genug hielte und es mir fest genug wünschte, dann wärst Du nicht tot. Und dieser ganze Alptraum mit Telefonaten vor dem Krankenhausaufenthalt, mit Berichten und Fotos von der Intensivstation, mit Todesanzeigen, Nachrufen, dem Ordnen des Nachlasses, und dass ich jetzt mit Deinem Auto herumfahre, dessen Kennzeichen Deine Initialen und Dein Geburtsdatum sind – dann wäre das alles nur ein riesengroßer Betrug gewesen, ein Fake, und in Wirklichkeit bist Du nicht tot. Sondern versteckst Dich nur, weil…

Ja, warum solltest Du? Es gibt keinen Grund. Du warst dem Leben zugewandt, so offen, so herzlich, so verletzlich, gleichzeitig oft ungeduldig, manchmal sogar grob, aber eins warst Du vor allem: Du selbst. Ich wusste bei Dir immer, woran ich war, hatte nie das Gefühl, Dir etwas verschweigen zu müssen. Es gab diese ganz besondere Verbindung zwischen uns, vom ersten Moment an, die war immer da, auch wenn wir uns nur in großen Abständen gesehen haben. Wie Seelenzwillinge. Ich vermisse die spontanen Telefonate, in denen Du mir vor Vergnügen glucksend Geschichten erzählst, immer im Berliner Tonfall, manchmal auch abgleitend ins Vogtländische, wo Du herstammst. Ich vermisse die regelmäßigen SMS, die mit guten Sonntagswünschen hin und her gingen. Die Verbundenheit war viel tiefer als das. Ich wusste einfach, ob es Dir gut oder schlecht ging, und umgekehrt genauso. Herrschte zu lange Schweigen, rief einer von uns an und erkundigte sich besorgt.

Ich weiß, dass Du manchmal neben mir sitzt, wenn ich mit Deinem blauen Auto herumfahre. Ich glaube, Du wolltest, dass ich es bekomme, wenn Du nicht mehr da bist. Ich weiß noch, wie wir zusammen darin saßen und Du mir Berlin gezeigt hast. Immer warst Du dann ganz stolz, als hättest Du persönlich es erbaut. Über den Kudamm sind wir gefahren, über die Glienicker Brücke, wir waren am Wannsee und an dem Ort, wo Kleist ins Wasser ging, auf dem Tempelhofer Feld, bei Theaterpremieren, und gemeinsam bei der Museumsnacht unterwegs, fast alles mit diesem kleinen blauen Auto, an dem so viele Erinnerungen hängen. Immer gab es zu sehen und zu entdecken und vor allem zu lachen und zu erzählen. Immer. Ich aus dem Westen, Du aus dem Osten, und gemeinsam erkundeten, verwünschten und beratschlagten wir die neue, komplizierte, zusammenwachsende Welt, und waren dankbar, dass wir uns kennenlernen konnten.

Der Himmel über Berlin war für mich immer blau und wolkenlos. Seit dem letzten Sommer trägt der Himmel ein paar kleine, weiße Wölkchen, und auf einem davon sitzt Du und schaust dem Treiben auf der Erde zu, ich bin sicher. Denn immer ist da jetzt mindestens ein kleines weißes Wölkchen, wenn ich in Berlin bin und nach oben sehe. Das beruhigt mich. Du passt von dort oben auf mich auf.

Die Trauer kommt in Wellen. An guten Tagen freue ich mich, jetzt einen ganz persönlichen Schutzengel zu haben. An anderen Tagen wieder reicht ein kleiner Anlass und ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen, weil ich unversehens über ein Foto, einen Erinnerungsfetzen, ein Andenken stolpere. Wenn ich daran denke, dass ich Dich auf Deinem letzten Weg nicht begleiten konnte. Wenn ich darüber nachdenke, was ich Dir alles sagen wollte und es verschoben habe. Wenn wieder zur Gewissheit wird, dass das Leben ohne Dich weitergeht. Du fehlst mir entsetzlich.

Manchmal bin ich ganz in Deiner Nähe. Dann sitze ich in dem Café, wo wir uns oft getroffen haben, denke an Dich, an unser letztes Gespräch und will sonst niemanden sehen. Oder ich bin auf dem Friedhof, wo Deine Urne begraben wurde. Ich habe keine Blumen dabei, und ich weiß, dass Du mir das verzeihst. Aber ich habe immer, immer einen kleinen Zettel in der Tasche, zusammengefaltet, und das Papier sorgfältig ausgesucht, auf dem eine Botschaft für Dich steht. Ich verbrenne den Zettel, dort, wo die Erde das birgt, was von Dir übrigblieb, und sehe zu, wie die Buchstaben, aufgelöst in Rauch, aufsteigen, bis zu Dir, bis zu Deiner Wolke. Ich schreibe auf, was ich Dir nicht mehr sagen konnte. Ich schreibe auch auf, was ich Dir nie sagen konnte, und irgendwann werde ich vielleicht alle Worte und allen Rauch hinaufgeschickt haben.

Irgendwo bist Du noch. Musst Du noch sein. Kannst Du nicht bitte nicht tot sein? Ich muss Dir noch so viel erzählen…

„Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein.“
Kleist, Prinz von Homburg

Dorotheenstädtischer Friedhof und Französischer Friedhof, Berlin

Endlich habe ich es geschafft, diese beiden zu besuchen, sie standen schon lange auf meiner Liste. Der Französische Friedhof bildet gemeinsam mit dem benachbarten Dorotheenstädtisch-Friedrichswerderschen Friedhof das bedeutendste erhaltene und noch genutzte Friedhofsensemble Berlins. Und meine Verwunderung war groß, dass er praktisch nur einen Steinwurf weit entfernt liegt vom nördlichen Ende der Friedrichstraße und in der Nähe der Oranienburger Straße, einer Gegend, in der ich schon oft unterwegs war.

Der Dorotheenstädtische Friedhof wurde 1762 angelegt (der Französische Friedhof  1780) und bis 1826 mehrmals vergrößert. Er ist auch als „Promi-Friedhof“ bekannt, denn zahlreiche bekannte Persönlichkeiten sind hier begraben: die Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johann Gottlieb Fichte, die Schriftsteller Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Arnold Zweig, Christa Wolf und Anna Seghers, der Regisseur Heiner Müller, die Baumeister Friedrich August Stüler und Karl Friedrich Schinkel, der Künstler John Heartfield, Schauspieler Bernhard Minetti, die Schauspielerin Helene Weigel und der Buchdrucker Ernst Theodor Litfaß, Alt-Bundespräsident Johannes Rau. Und schließlich – leider, leider – einer meiner Lieblingsschauspieler: Otto Sander.

Der Friedhof hat einfach „Flair“, wenn man das über einen Friedhof sagen kann. Irgendwie kann man es spüren, dass hier vor allem Künstler bestattet wurden, es liegt fast eine gewisse Heiterkeit über der gesamten Anlage. Ist in den letzten Jahren ohnehin in Mode gekommen, Gräber individuell zu gestalten, so kann man es hier sogar über die Jahrhunderte hinweg beobachten.

Zwei Trends der letzten Jahre sieht man auch in dieser Anlage: die jüdische Sitte, Steine auf das Grab zu legen, und eine andere: kleine Buddha-Statuen aufzustellen.

Meine ständige Rede: dass man jedem Grab ansehen kann, wieviel der Verblichene seinen Angehörigen und Freunden bedeutet hat. Aber noch nirgends fand ich positive und negative Beispiele so nah beieinander wie hier. Das wohl tristeste Grab, dass ich je gesehen habe, war das der Schauspielerin Jenny Gröllmann auf dem französischen Friedhof. In einer schmucklosen Vase zwei schon lange verwelkte Rosen, keine Bepflanzung, statt dessen hatte jemand wohl während des Winters Tannenzweige auf die Grabstätte gelegt, die inzwischen alle braun geworden waren. Hier hat sich schon lange niemand mehr gekümmert (Stand: Mai 2015). Ein sehr trauriger Anblick.

Und was für ein Gegensatz das Grab von Otto Sander. Da ist sofort jedem klar: dieser Mensch ist sehr geliebt worden. Unzählige frische Blumen in Vasen oder Töpfen, alles bepflanzt, die Grabstätte liebevoll mit großen Kieseln begrenzt, kleine Kunst- und Erinnerungsgegenstände, Figuren in allen Größen – wunderschön! Offenbar bekommt Otto regelmäßig Besuch… 😉

Ein Grabmal, das ich in seiner Ausdehnung und Ausstattung zunächst irritierend fand, hat mich dann aber doch sehr berührt: der Königliche Baurat Friedrich Hoffmann hat es 1855 für seine vier Kinder errichten lassen, die innerhalb weniger Wochen alle an Scharlach verstarben…

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